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       # taz.de -- Abstimmung in der Türkei: Wie Erdoğan meine Familie spaltet
       
       > Die Eltern hassen Erdoğan; Oma, Onkel und Cousins lieben ihn. Ein
       > Familienbesuch in Heidelberg kurz vor dem Verfassungsreferendum.
       
   IMG Bild: Eine Frage, die auch hierzulande heiß diskutiert wird: Evet oder hayir? Ja oder nein?
       
       Erdoğans Stimme ist heiser: „Mit ‚Nein‘ stimmen nur Terroristen!“ Er hat am
       Morgen in Rize gesprochen und am Tag vorher in Diyarbakır, und gerade
       spricht er in Trabzon die fast identischen Sätze, auf die Tausende von
       Menschen mit „Evet“-Schreien antworten. Und wir sind die ganze Zeit dabei.
       Obwohl wir in Heidelberg sitzen. Alle Reden des Staatspräsidenten werden im
       türkischen Fernsehen live übertragen, und im Wohnzimmer meiner Eltern läuft
       nur türkisches Fernsehen.
       
       Dabei hassen meine Eltern Erdoğan. Aber sie können nur noch einen
       einzigen türkischen Sender empfangen, der nicht regierungstreu berichtet:
       Halk TV. Und der zeigt auch von morgens bis abends Erdoğan, um dessen Lügen
       zu demontieren. Nur manchmal zeigt er Atatürk.
       
       „Erdoğan hat die Türkei modernisiert.“ Diesen Satz höre ich sehr oft, wenn
       ich meine Familie in Heidelberg besuche. Natürlich nicht von meinen Eltern.
       Aber vom Rest der Familie, der im Umkreis von zehn Kilometern wohnt und
       meist schon Sonnenblumenkerne knackend in unserem Wohnzimmer auf mich
       wartet, wenn ich zweimal im Jahr mit meinem Rollkoffer aus Berlin ankomme.
       Oma, Tante M., Tante Z., Cousin L., Onkel R. Im Hintergrund läuft der
       Fernseher halblaut, während sie gemeinsam Lobeshymnen auf die „neue“ Türkei
       einstimmen. Die schicken Einkaufszentren. Das neue Schienenverkehrsnetz.
       Und ja, die Autobahn.
       
       In Heidelberg gab es lange vor Erdoğan schon eine Autobahn. Deren
       Spatenstrich wurde 1933 gesetzt, aber das ist eine andere Geschichte.
       Irgendwann wird für gewöhnlich der Kopf meiner Mutter ganz rot, sie leidet
       unter Bluthochdruck. Sie fängt an, Argumente aufzuzählen, wieso die
       türkische Regierungspartei AKP ein Haufen Verbrecher ist und dass keine
       Autobahn der Welt etwas daran ändert. Darauf folgen normalerweise nur sture
       Gegenreden darüber, wie dreckig und arm und heruntergekommen die Türkei
       war, als man vor fünfzehn Jahren da Urlaub machte. Vor Erdoğan. Und
       schließlich bleibt meiner Mutter nichts anderes übrig, als einen Tick zu
       emotional zu reagieren: Sie verletzt und beleidigt ihre Geschwister, Neffen
       und ihrer Mutter. Oder bittet die Familie, ihr Haus zu verlassen.
       
       Ich bin Journalistin, Linke, und ich komme nach meiner Mutter. Das heißt,
       dass ich meine Großfamilie eigentlich hassen müsste. Das tue ich aber
       nicht, weil sie abgesehen von dieser Erdoğan-Macke alle ganz nette und
       feinfühlige Menschen sind. Außer Cousin L. Der hat ein Drogenproblem und
       wünscht sich auf Facebook regelmäßig die Hinrichtung irgendwelcher
       Oppositioneller. Aber der Rest ist total okay. Solange nicht über Politik
       gesprochen wird.
       
       ## „Dein Cousin geht zum IS“
       
       Insofern wollte ich es vermeiden, kurz vor dem türkischen
       Verfassungsreferendum noch meine Familie zu besuchen. Wer will sich schon
       freiwillig anhören, wie ein geliebter Mensch nach dem anderen erzählt, dass
       er seine Stimme für die Einführung der Autokratie abgibt. Aber der Zufall
       wollte es, dass ich an einem Montag im April einen Termin in Süddeutschland
       hatte, und so fuhr ich schon am Wochenende nach Heidelberg, mit einer
       Thermoskanne Zen-Tee im Gepäck.
       
       „Dein Cousin geht zum ‚Islamischen Staat‘ “, sagt Mama trocken, während sie
       mir zur Begrüßung eine Suppe aufwärmt. Ich schaue sie fragend an. „Ja, ja“,
       sagt sie, „er will auswandern. Erst schön Urlaub in Antalya machen und dann
       rüber nach Syrien, gegen Ungläubige kämpfen.“ „Im Ernst, jetzt?“ Sie
       verdreht müde die Augen. „Ich hab gesagt: Du bist fünfundvierzig und hast
       Hepatitis C. Die machen doch Kanonenfutter aus dir. Hat der überhaupt schon
       mal ein Huhn geschlachtet?“
       
       Es klingt verrückt, aber mich bewegen diese Geschichten so gut wie nicht
       mehr. Cousin L. hat jedes Jahr einen neuen Plan, der meistens mit einem
       Aufenthalt in der Entzugsklinik endet. Würde das in der Zeitung stehen,
       hätte ich den Artikel in einem Rutsch verschlungen und mit Freunden darüber
       diskutiert. Aber wenn es der Familien-Talk ist, nun ja.
       
       Wenn ich wiederum in den deutschen Medien höre, alle Deutschtürken seien
       Erdoğan-Fanatiker, dann tut mir das ziemlich weh. Weil ich das Klischee
       hasse und zugleich mit ihm verwandt bin. Professionell sage ich immer:
       „Nicht alle Deutschtürken sind pro AKP!“ Aber insgeheim zweifle ich daran.
       Andererseits schreien die Erdoğan-Fans einfach lauter. Meine Mutter zum
       Beispiel macht keinen Hehl aus ihrer Kritik. Aber gleichzeitig traut sie
       sich nicht zu verraten, für welche Partei sie bei den Parlamentswahlen in
       der Türkei gestimmt hat. Sie hat Angst, als „gottlos“ zu gelten und Kunden
       zu verlieren. Sie betreibt einen kleinen Supermarkt.
       
       Religion spielte in meiner Familie schon immer eine große Rolle, aber in
       gesundem Maße. Niemand außer meiner Oma trägt ein Kopftuch, aber die Kinder
       besuchen inzwischen alle an den Wochenenden die Koranschule. Zu meiner Zeit
       war das noch nicht so. Mein Bruder und ich gingen zum Türkischunterricht,
       der kostenlos und freiwillig stattfand. Wir lernten dort die Nationalhymne
       und die Kennzeichennummern aller türkischer Provinzen. Meine kleinen
       Nichten lernen heute statt türkische arabische Buchstaben. Sie verstehen
       zwar nicht, was sie lesen, es geht nur darum, das geschriebene Wort zu
       wiederholen. Der Imam erzählt ihnen, dass im Paradies ein neuer Baum
       sprießt, jedes Mal, wenn sie den Koran zu Ende gelesen haben.
       
       ## Kapitalismus und Gott Hand in Hand
       
       Finanziell geht es allen in der Familie inzwischen ganz gut. Mein Großvater
       mütterlicherseits war als Gastarbeiter in den 1970ern mit Frau und sieben
       Kindern aus der Nordosttürkei nach Deutschland gekommen. Sie hatten erst
       mal zwanzig Jahre in der heruntergekommensten Hochhaussiedlung von Hamburg
       gelebt. Inzwischen zahlen alle die Kredite ihrer Einfamilien- oder
       Reihenhäuser ab. Wie viele Deutschtürken sehnt auch meine Familie sich nach
       sozialem Aufstieg und BMW-Fahren, ohne auf ihre islamischen Werte zu
       verzichten. Und vielleicht ist das das stärkste Merkmal, das sie mit der
       AKP-Ideologie vereint: der Traum von einer Welt, in der Kapitalismus und
       Gott Hand in Hand gehen.
       
       Am Nachmittag meiner Ankunft sitzen wir alle um den kleinen
       Marmorcouchtisch herum. Tante M. erzählt davon, wie ihre Tochter in der
       S-Bahn von Syrern angemacht wurde. Tante Z. füttert ihr Baby, und Cousin L.
       mutmaßt, der Anschlag vom Breitscheidplatz sei nur inszeniert worden. Die
       Sonne scheint, der Fernseher ist aus, und ich frage mich, wie lange die
       friedliche Stimmung noch anhält. Oma nippt am Tee und fragt mich, wie es
       mit meinem Job in Berlin läuft. „Willst du nicht irgendwann in die Türkei
       ziehen, meine Liebe?“ Es geht los.
       
       Ich lächle verwundert. „Oma, ich bin Journalistin.“ „Ja, und? Was willst du
       hier? In der Türkei ist es doch schön.“ Ich frage sie höflich, ob wir
       eigentlich von derselben Türkei sprechen, da grätscht Tante M. rein. Sie
       sagt, nach dem Putschversuch sei es ja so schwierig geworden, und wechselt
       das Thema gekonnt zu ihren Urlaubsplänen und dass sie noch nicht weiß, ob
       sie im August frei bekommt.
       
       Warum eiern die nur so ums Thema herum? Sie wirken müde vom ganzen
       Streiten. Aber ich bin noch fit, ich kam doch gerade erst. Drei Tees und
       eine belanglose Smalltalkstunde später gehe ich in die Offensive. Ich frage
       Tante M., ob ihre Tochter endlich eingebürgert wurde. Sie sagt ja. „Oh,
       dann darf sie ja gar nicht wählen“, stelle ich mit aufgesetzter Verblüffung
       fest. „Sie würde sowieso nicht wählen“, sagt sie nüchtern. „Es gibt keine
       richtige Antwort auf die Frage, die da gestellt wird.“
       
       Meine Augen weiten sich. „Was meinst du?“, fragt meine Mutter und ext ihr
       Teeglas aufgeregt. „Na, es ist nicht so, dass sie gegen Tayyip ist. Wir
       sind nicht gegen Tayyip.“ Ich bin verblüfft. Ich dachte immer, Erdoğan wird
       nur von Kritikern Tayyip genannt. Und AKP-Wähler eher „Führer“ oder
       „Meister“ oder so sagen. Egal. „Wir vertrauen Tayyip“, fährt Tante M. fort.
       „Aber was ist, wenn er stirbt und jemand anderes an die Macht kommt? Der
       darf dann alles bestimmen. Vielleicht ist er verrückt!“
       
       ## Wir denken nur: „Hä?“
       
       Vielleicht ist er verrückt. Genau in diesem Moment, in dem ein zustimmendes
       Nicken durch die Runde geht, trifft mein Blick den meiner Mutter. Und wir
       denken beide nur: „Hä?“
       
       „Im Koran steht, wir sollen uns nicht so sehr mit dem Leben auf der Erde
       beschäftigen, sondern lieber ans Jenseits denken“, sagt Oma und meint
       damit: Scheißt aufs Wählen. Wer fährt schon achtzig Kilometer nach
       Karlsruhe zum Konsulat? Ich bin verblüfft. Nicht wählen ist zwar auch keine
       Lösung, aber ich sehe, wie sich zwischen meine Familie und Erdoğan ein
       mindestens zwei Zentimeter dicker Zweifel schiebt. Wie sie zehnmal
       differenzierter über das Verfassungsreferendum denkt, als ich angenommen
       hatte. Denn ja, sie werden zwar nicht mit „Ja“ stimmen. Aber nein, sie
       werden auch nicht mit „Nein“ stimmen. Denn mit „Nein“ stimmen ja nur
       Terroristen.
       
       9 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nuray Yildirim
       
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