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       # taz.de -- Neues Buch zum 30. Todestag Primo Levis: „So war Auschwitz“
       
       > Das Buch, das zum Todestag von Primo Levi erscheint, enthält teils
       > unveröffentlichte Zeugnisse des Holocaust-Überlebenden.
       
   IMG Bild: Primo Levi Anfang der achtziger Jahre. In Auschwitz war er im selben Block wie Elie Wiesel
       
       Es gibt nur wenige Autoren, die aus eigener Erfahrung beschreibend das
       System der Konzentrationslager so durchdrungen haben wie Primo Levi, der in
       seinem autobiografischen und schon 1947 erschienenen Bericht „Ist das ein
       Mensch?“ (deutsch 1961) über seine Zeit im Arbeitslager Monowitz bei
       Auschwitz den Zivilisationsbruch reflektiert, der von den Nazis durch die
       gezielte Entmenschlichung der Opfer systematisch betrieben wurde.
       
       Dies ist ein zentraler Punkt, um das System der Konzentrationslager zu
       verstehen, nämlich den Menschen so zu demütigen und ihn so „auf das Niveau
       seiner Eingeweide herabzuwürdigen“, dass es als perverser Akt der Gnade
       erscheint, ihn aus der Welt zu schaffen.
       
       In dem Buch „So war Auschwitz. Zeugnisse 1945–1986“, das jetzt zu seinem
       30. Todestag erschienen ist, kommt Primo Levi darauf zurück. Er beschreibt
       in einem Vortrag aus dem Jahr 1961, dass „das beliebte, typische, tägliche
       Zeremoniell des Aufmarsches der Lumpen-Menschen zur Musik eines Orchesters“
       vor allem dazu da war, den 14 bis 18 Jahre alten Hitler-Jungen, die dem
       Lagerappell beiwohnten, den Eindruck zu vermitteln: „Das also sind die
       Juden, von denen man uns erzählt hat, die Kommunisten, die Feinde unseres
       Vaterlands?
       
       Aber das sind doch keine Menschen, das sind ja Hampelmänner, Tiere. Sie
       sind schmutzig, zerlumpt, sie waschen sich nicht, schlägt man sie, wehren
       sie sich nicht, sie lehnen sich nicht auf, sie denken nur daran, sich den
       Bauch vollzuschlagen. Es ist richtig, sie bis zum Tod arbeiten zu lassen,
       es ist richtig, sie zu töten.“
       
       ## An der Uni waren Juden mehr oder weniger toleriert
       
       Primo Levi war 19 Jahre alt und studierte gerade im ersten Semester Chemie
       in Turin, als die Rassegesetze in Italien erlassen wurden. Während man in
       Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“ nachlesen kann, welche
       verheerenden Auswirkungen diese Gesetze an der Berliner Uni hatten und wie
       begeistert sie von den nationalsozialistischen Studentenverbänden umgesetzt
       wurden, fühlte sich Levi trotz „der stickigen Atmosphäre der Universität
       von damals nicht unwohl“.
       
       Levi konnte trotz einiger Schikanen weiter studieren und 1941 promovieren.
       Die Juden waren mehr oder weniger toleriert, man betrachtete sie an der Uni
       sogar „mit einer Art von schuldbewusster Verlegenheit“.
       
       Das änderte sich schlagartig 1943. In Turin kam es im März zu großen
       Streiks der Arbeiter. Die Regierung reagierte nur zaghaft darauf, löste
       sich schließlich am 25. Juli auf und brach am 8. September endgültig
       zusammen. Die Deutschen übernahmen das Kommando.
       
       Levi hatte keinen Plan, aber auch keinen Zweifel daran, irgendetwas tun zu
       müssen. Er ging in die Berge und traf dort Deserteure, versprengte
       Soldaten, Arbeiter und andere Leute auf der Flucht. Sie versuchten, Kontakt
       zur Resistenza aufzunehmen, weil sie weder Geld noch Waffen noch Erfahrung
       hatten.
       
       In einer Razzia wird Levi am 13. Dezember verhaftet, und obwohl er falsche
       Papiere besaß und, wie er glaubte, hätte verbergen können, dass er Jude
       war, gab er in einem Verhör zu, in den Untergrund gegangen zu sein, weil es
       ihm aus jugendlich-naiven Gründen „unehrenhaft“ vorkam, seine Herkunft zu
       verleugnen. Als der Beamte erfuhr, dass „wir Juden und keine ‚echten
       Partisanen‘ waren, sagte er zu uns: ‚Es wird euch nichts Böses geschehen.
       Wir schicken euch ins Lager Fossoli.‘ “ Und tatsächlich ging es einem in
       diesem Lager damals noch „ziemlich gut“.
       
       ## Niemand interessierte sich für die Geschichten Überlebender
       
       Aber dann übernahm die SS das Lager und stellte innerhalb von zwei Tagen
       einen Abtransport von 650 Juden zusammen. Levi macht von nun an
       Bekanntschaft mit dem den Italienern völlig fremden
       „Vernichtungsantisemitismus“ der Deutschen. Ein elf Monate währender
       Aufenthalt in der Hölle beginnt, den er nur durch Glück übersteht.
       
       Levi hat sich Zeit seines Lebens damit auseinandergesetzt, hat Bücher
       geschrieben, bei Prozessen ausgesagt, Erklärungen abgegeben und Berichte
       verfasst, wie den „über die hygienisch-medizinische Organisation des KZs
       für Juden in Monowitz“ 1945 auf Anforderung der russischen Befreier. In
       diesem allerersten Dokument, das nun in „So war Auschwitz“ vorliegt,
       versucht er möglichst präzise Angaben zu machen, jeden Erinnerungsfetzen
       festzuhalten für die Nachwelt.
       
       Für viele Überlebende war das Zeugnisablegen ein starkes Motiv, das Lager
       zu ertragen, aber als sie die Möglichkeit dazu hatten, mussten sie
       feststellen, dass sich niemand für ihre Geschichten interessierte. Es
       handelte sich dabei jedoch weniger um Ignoranz, wie die Herausgeber
       Domenico Scarpa und Fabio Levi glauben, sondern um Verdrängung.
       
       In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs wollte man nicht mit den
       Erinnerungen belästigt werden, weil gegenüber den Überlebenden sich
       automatisch die Frage stellte, was man selbst hätte tun können, um deren
       Schicksal zu verhindern. Und deshalb waren sie nicht sehr beliebt. Erst in
       den 1980er Jahren begann sich das zu ändern.
       
       1986 erschien Primo Levis „Die Untergegangenen und die Geretteten“, eines
       der besten Bücher über Auschwitz neben Ruth Klügers „weiter leben“, in dem
       Levi die Verdrängungen und Verzerrungen den Erinnerungen sowohl der Opfer
       als auch der Täter nachspürt und der „Scham“ derer, die durch Zufall
       davongekommen waren. Ein halbes Jahr später, am 11. April 1987, stürzte
       Primo Levi den Aufzugschacht hinab. Er hinterließ kein Abschiedsschreiben.
       
       11 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Bittermann
       
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