URI: 
       # taz.de -- Pro und Contra Brexit: Schaden die Briten sich selbst?
       
       > Am Mittwoch reicht Premierministerin Theresa May die Scheidung von der EU
       > ein. Ob das den Wählern dient, ist umstritten.
       
   IMG Bild: Mit oder ohne EU – den Briten bleibt auf jeden Fall ihre Küche
       
       ## Ja, die Briten schaden sich selbst
       
       Emotionen entscheiden in der Politik, nicht Fakten. Der Brexit ist
       widersinnig und nur möglich, weil die britischen Wähler an windige
       Illusionen glauben. Die Versprechen der Brexiteers lauteten: mehr Freiheit,
       mehr Geld, weniger Einwanderer. Nichts davon wird eintreten. Die normalen
       Briten werden keinesfalls reicher, sondern vielleicht sogar ärmer.
       Profitieren wird höchstens eine kleine Elite, die das Brexit-Chaos nutzt,
       um weitere Steuererleichterungen für die Reichen durchzusetzen.
       
       Die Brexiteers haben stets mit Lügen operiert. Dazu gehörte die Legende,
       dass Großbritannien keine Demokratie mehr sei – sondern alles in Brüssel
       entschieden würde. Doch in Wahrheit konnten die Briten über alle wichtigen
       Gesetze selbst bestimmen. Die Steuer-, Lohn-, Bildungs- oder
       Gesundheitspolitik wurde in Westminster beschlossen, nicht im EU-Parlament.
       
       Natürlich gibt es Verordnungen, die aus Brüssel kommen. Aber diese Vorgaben
       werden auch künftig in Großbritannien gelten – weil sie fast immer den
       Handel berühren. Handel kann ohne Regeln nicht funktionieren, und da die
       Europäer die wichtigsten Kunden der Briten sind, wird sich an der
       Grundstruktur nichts ändern: Die Briten müssen sich weiterhin mit den 27
       anderen EU-Staaten einigen.
       
       Genauso absurd ist die Hoffnung vieler Briten, sie könnten Geld sparen,
       wenn sie die EU verlassen. Bisher zahlen die Briten etwa 11 Milliarden Euro
       netto in den Brüsseler Haushalt ein, und die Brexiteers würden diese Summe
       gern ins heimische Gesundheitssystem umleiten. Dies wird ein Traum bleiben.
       
       Es ist nämlich nur fair, dass die Briten die ärmeren EU-Staaten
       unterstützen. Auch Deutschland ist ein großer Nettozahler. Denn vom
       europaweiten Handel profitieren vor allem die wettbewerbsfähigen Staaten,
       während die armen Länder tendenziell verlieren. Um diese Ungerechtigkeit
       auszugleichen, zahlt sogar Norwegen in die EU-Kassen ein, obwohl es gar
       kein Mitglied ist. Dieses Schicksal dürfte auch auf die Briten warten.
       
       Auch die Einwanderer waren bisher kein Problem für Großbritannien, sondern
       haben sogar mehr in die Sozialkassen eingezahlt, als sie von dort bekommen
       haben.
       
       Der Brexit bekämpft Scheinprobleme, wird aber leider nicht folgenlos
       bleiben. Denn die britische Elite hat verstanden, dass sich eine
       einzigartige Chance auftut, um Steuersenkungen durchzudrücken. Typisch sind
       die Kampagnen von UKCity, einer Lobbytruppe, die die Londoner Banken
       vertritt: Man bestärkt das Volk in seinem Irrglauben, dass der Brexit die
       totale Wende sei – und verlangt Kompensationen für die angeblichen Schäden.
       Das britische Volk wird den Betrug gar nicht bemerken, denn es will ja
       partout nicht wahrnehmen, dass sich nach einem Brexit wenig ändert – und
       wird daher den Banken gern entgegenkommen. Nichts macht so blind wie
       Nationalismus. (Ulrike Herrmann)
       
       ## Nein, die Briten schaden sich nicht selbst
       
       „Take Back Control“ lautete die Parole, die beim britischen
       Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016 den Befürwortern des EU-Austritts die
       Mehrheit bescherte. Es war ein ganz einfacher Appell an den demokratischen
       Urinstinkt: Politische Entscheidungen müssen demokratisch kontrolliert und
       revidiert werden können.
       
       Auf EU-Ebene wird Politik zwischen Regierungen ausgedealt oder von der
       nicht gewählten Kommission ausgedacht, und die in EU-Verträgen
       festgehaltenen Richtungsentscheidungen sind nicht rückholbar. Besser, das
       entschieden die Briten, ist ein gewähltes Parlament mit der Möglichkeit der
       Kontrolle und Sanktionen durch das Wahlvolk. Dann obliegt es den
       Wählerinnen und Wählern allein, welche Politik sie in ihrem Land wollen und
       wem sie wofür eine parlamentarische Mehrheit erteilen.
       
       Dieser demokratische Instinkt war und ist deshalb in Großbritannien
       mehrheitsfähig, weil er keine politische Richtungsentscheidung beinhaltete.
       Der Brexit war kein Wahlsieg für Nigel Farage, sondern der Erfolg eines
       breiten überparteilichen Bündnisses, geführt von einer deutschstämmigen
       Labour-Abgeordneten, das alle Bevölkerungsschichten und politischen
       Sensibilitäten ansprach.
       
       Finanziell ist die EU der Verlierer des Brexit und Großbritannien der
       Gewinner. Sonst würde die EU ja nicht von der britischen Regierung
       gigantische Geldsummen als Ausgleich für den Austritt verlangen. Die
       spannende Frage ist aber nicht, wie hoch der Beitrag am Ende sein wird, mit
       dem sich London von Brüssel freikauft, sondern was Großbritannien mit der
       neu gewonnenen Entscheidungsfreiheit anstellt.
       
       Den Brexit wählen hieß eben nicht, für oder auch gegen Steuersenkungen für
       britische Reiche zu stimmen. Es hieß auch nicht, die britischen Grenzen zu
       schließen oder sie offen zu halten. Es hieß, solche Entscheidungen
       ausschließlich Großbritannien selbst zu überlassen.
       
       Das Paradebeispiel ist die Migrationspolitik. Die Labour-Regierung von Tony
       Blair öffnete 2004 früher als jedes andere EU-Land den eigenen Arbeitsmarkt
       für Arbeitsmigranten aus den osteuropäischen Beitrittsländern. Dass sich
       Millionen auf den Weg machten, hatte sie nicht gedacht, wie Blair selbst
       später eingestand. Als die konservative Regierung Cameron dem ein Ende
       setzen wollte, durfte sie das nicht – wegen der EU. Auf den Folgen der
       vorherigen Fehlplanung – überlastete öffentliche Dienstleistungen in den
       Brennpunkten der Immigration und ein Erstarken des Rechtspopulismus – blieb
       sie aber sitzen. So wird jedes Regierungshandeln unmöglich.
       
       Der Brexit war somit ein Warnsignal der britischen Wähler nicht nur an
       Brüssel, sondern auch an London. Die Leute wollen mehr mitreden, auf allen
       Ebenen. Das ist überaus heilsam sowohl für Großbritannien als auch für die
       EU. Der Brexit bedeutet: Wählen gehen kann etwas verändern. Demokraten
       sollten das begrüßen. (Dominic Johnson)
       
       29 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Herrmann
   DIR Dominic Johnson
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Brexit
   DIR Schwerpunkt Brexit
   DIR Europäische Union
   DIR Referendum
   DIR Großbritannien
   DIR Schwerpunkt Brexit
   DIR Schwerpunkt Brexit
   DIR Schwerpunkt Brexit
   DIR Referendum
   DIR England
   DIR Schwerpunkt Brexit
   DIR Europäische Union
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Englands Ostküste in Zeiten des Brexit: Fisch macht nicht mehr satt
       
       Grimsby hatte einmal 650 Fischkutter. Heute ist der Hafen fast leer. Der
       Brexit wird nicht helfen, das zu ändern, glaubt Fischhändler Boyers.
       
   DIR Brexit-Verfahren beginnt: Wie bei einer echten Scheidung
       
       Nun geht der Brexit richtg los. Bürgerrechte und Binnenmarkt – die
       Verhandlungen Großbritanniens mit der EU bieten reichlich Konfliktstoff.
       
   DIR Fortgang des Brexit: Jetzt wird's ernst
       
       Der Weg für die Austrittsverhandlungen ist frei. Die britische
       Premierministerin bestätigte das im Londoner Parlament. Der
       EU-Ratspräsident zeigte sich enttäuscht.
       
   DIR Großbritannien vor dem Brexit: May unterzeichnet Austrittsbrief
       
       Die britische Premierministerin Theresa May hat einen Brief an die EU
       unterzeichnet, mit dem ihre Regierung den Brexit beantragt. Dieser geht nun
       an Brüssel.
       
   DIR Debatte Brexit: Lernen von der Schweiz
       
       Die Briten machen beim Brexit so gut wie alles falsch. Referenden sind gut,
       aber nicht heilig, wie das Beispiel der Eidgenossen zeigt.
       
   DIR Die Wahrheit: Die Wächter des Grauens
       
       Wer ausgerechnet am allergrauesten Ort des chronisch ergrauten Englands
       farblich aus der Reihe tanzt, hat mit Konsequenzen zu rechnen.
       
   DIR Demonstration in Großbritannien: Marsch der Brexit-Gegner
       
       Mehr als 25.000 Menschen sind in London auf der Straße. Sie demonstrieren
       gegen den EU-Austritt, der schon in wenigen Tagen beginnen soll.
       
   DIR Andre Wilkens über die Zukunft der EU: „Europa muss besser funktionieren“
       
       Am 60. Jahrestag der Römischen Verträge wollen nur wenige die EU feiern.
       Außer Andre Wilkens. Den Brexit hält der Politikwissenschaftler dennoch für
       eine Zäsur.