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       # taz.de -- Dokumentarfilm „Gaza Surf Club“: Flüchten dürfen nur die Jungs
       
       > Philip Gnadt dokumentiert die Surfszene im Gazastreifen. Die hat mit
       > Materialknappheit und einer bornierten Moral zu kämpfen.
       
   IMG Bild: Sabah genießt die Momente, in denen ihr Vater sie auf dem Surfbrett hinter dem Motorboot herzieht
       
       Zu acht stehen sie auf einer Anhöhe am Strand, ihre Surfbretter unter dem
       Arm, und blicken auf die Wellen herunter, die an den Strand von Gaza City
       peitschen. Dann stürzen sie sich in die Wellen. Regisseur Philip Gnadt
       registriert in seinem Dokumentarfilm „Gaza Surf Club“ einen selten
       gezeigten Teil des Alltags im Gazastreifen: das Surfen am Strand. Tagein,
       tagaus finden sich die jungen Surfer am Strand ein. Das Wort, das bei allen
       in „Gaza Surf Club“ am häufigsten fällt, ist „vergessen“.
       
       Das Meer erscheint wie ein Ausbruch aus dem Alltag des Gazastreifens, die
       Wellen helfen, die miserablen Lebensbedingungen zu vergessen. Dass das
       Surfen überhaupt möglich ist, verdankt sich einigen wenigen Surfbrettern,
       die in den Jahren vor der Blockade über die Grenze kamen, oder
       improvisierten Brettern. Surfbretter zu importieren ist durch die Blockade,
       mit der Israel auf die Wahl der islamistischen Hamas und Raketenangriffe
       reagiert, nahezu unmöglich. Die Ausgangsmaterialien, um Surfbretter selbst
       zu fertigen, sind nicht zu bekommen.
       
       Vor der Hütte mit seinen eisern gehüteten Surfbrettern erzählt der Fischer
       Mohammed Abu Jayab von den Anfängen der Surfkultur im Gazastreifen, vom
       Surfen auf Holzbrettern, Schrankwänden, allem, was auch nur annähernd so
       aussah wie ein Surfbrett. Heute gibt Abu Jayab den Teenagern am Strand
       Surfunterricht. Gegenüber den Anfängen in den 1980er Jahren wirken Ibrahim
       Arafat und all die anderen, die davon träumen, einen Surfshop in Gaza City
       aufzumachen, trotz aller Engpässe professionell.
       
       Damit der Traum vom Surfshop, der den Sport im Gazastreifen endlich fest
       etablieren soll, ein Minimum an Erfolgsaussichten hat, versucht Ibrahim ein
       Visum für die USA zu bekommen. Über eine befreundeten Surfer will er nach
       Hawaii fahren und durch ein Praktikum die nötigen Kenntnisse erwerben, um
       Surfbretter selbst zu bauen und zu vermarkten. Als er nach vielen
       vergeblichen Versuchen endlich ein Visum erteilt bekommt, gibt es kein
       Halten mehr.
       
       ## In Erinnerungen schwelgen
       
       Das Gegenbild zur Professionalisierung der männlichen Surferszene ist die
       junge Sabah, die als Kind von ihrem Vater wie all ihre Geschwister –
       Schwestern und Brüder gleichermaßen – das Surfen beigebracht bekommen hat.
       Als Jugendliche kann sie aber nicht mehr öffentlich surfen gehen, weil die
       Hamas den Bewohnerinnen und Bewohnern des Gazastreifens ihre bornierten
       Moralvorstellungen aufgezwungen hat.
       
       So bleibt Sabah nur, in Erinnerungen zu schwelgen, den Jungs vom Strand aus
       zuzugucken und die seltenen Momente zu genießen, in denen ihr Vater die
       Moralvorstellungen ignoriert und mit ihr auf einem Boot aufs Meer
       hinausfährt und sie auf dem Surfbrett wie auf Wasserski hinterherzieht.
       Zurück am Strand wird Sabah von einer Traube von jungen Schülerinnen
       umringt, die aus dem Staunen kaum heraus kommen.
       
       „Gaza Surf Club“ ist filmisch schlicht gehalten und in jeder Hinsicht
       fernsehtauglich gefällig durchformatiert: von den Einstellungsgrößen bis
       zur Laufzeit von knapp unter 90 Minuten, damit der Programmhinweis noch mit
       in den 90-Minuten-Programmslot passt. Der Film konzentriert sich ganz
       darauf, die Protagonisten durch ihren Alltag in Gaza und Ibrahim auf seiner
       Reise in die USA zu begleiten. Diese Haltung hat den Nachteil, dass „Gaza
       Surf Club“ in seinem Blick auf die Surferszene in Gaza austauschbar wirkt.
       
       „Leute, die an Orten, an denen man das gemeinhin nicht erwartet, Dinge tun,
       die Spaß machen“ ist beinahe schon ein eigenes Subgenre von
       Dokumentarfilmen – man denke an den DDR-Skateboarder-Dokumentarfilm „This
       Ain’t California“ oder Amber Fares’ Porträt des ersten reinen
       Frauen-Racing-Teams der arabischen Welt in „Speed Sisters“.
       
       ## Fremdeln und Faszination
       
       Doch der manchmal fast schon zu gesprächige Protagonist Ibrahim, die Bilder
       des Alltags in Gaza, die Anekdoten der Geschichte dieser Surferkultur unter
       besonderen Bedingungen und nicht zuletzt die Bilder von der Reise aus der
       Enge des Gazastreifens in die Weite Hawaiis tragen den Film verlässlich.
       Halten sich Fremdeln und Faszination bei der Begegnung mit der Surferkultur
       auf Hawaii anfangs noch die Waage, so sieht man Ibrahim die zunehmende
       Entspanntheit körperlich an.
       
       In diesen Aufnahmen geht die Idee des Films, die Erwartungen an einen Film
       über den Gazastreifen durch die Bilder der Surferkultur zu brechen,
       vollends auf. Während die Bilder aus dem Gazastreifen vor allem das
       Improvisieren unter den Bedingungen stetig wiederkehrender Kriege zeigen,
       wird erst in den Bildern von Ibrahim am Waikiki-Strand die innere
       Anspannung deutlich. In Hawaii ist das Surfen für Ibrahim nicht länger
       Flucht vor dem lähmenden Alltag, sondern Teil des Alltags.
       
       30 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Tietke
       
       ## TAGS
       
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