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       # taz.de -- Elektronikalbum von Carsten Jost: Coole Rettungsdecke
       
       > Der in New York lebende deutsche Elektronik-Produzent Carsten Jost meldet
       > sich mit dem beeindruckenden Album „Perishable Tactics“ zurück.
       
   IMG Bild: Hat auch einen Namen als bildender Künstler: Carsten Jost alias David Lieske
       
       Die Irritation beginnt mit dem Cover: Dort kniet ein Mann in karger
       Landschaft, in eine Rettungsdecke gehüllt, bedeckt von einem Netz. In der
       rechten Hand eine Waffe, vielleicht ein Granatwerfer, den er auf dem Boden
       abstützt. Der Horizont ist schwarz, dennoch reflektiert die
       Alu-Rettungsdecke des Mannes Licht.
       
       Ist der Mann getarnt, bereit zum Angriff oder eben gerettet worden,
       erschöpft? Inszeniert Carsten Jost, dessen aktuellem Album „Perishable
       Tactics“ dieses Bild als Cover dient, einen Kommentar zur gegenwärtigen
       Imagination des Anderen im Westen, in der uns dieser entweder als
       Bewaffneter oder aus dem Meer Geretteter entgegentritt?
       
       Die Titel der Tracks auf dem Album scheinen eine Lösung vorzugeben. Mehr
       als die Hälfte von ihnen stammt aus dem Militärischen: „Ambush“, „Army
       Green“, „Perishable Tactics“, „Platoon RLX“, „Platoon RLX II“ und „Dawn
       Patrol“. In „Platoon RLX“ ist ein Sample aus Oliver Stones Film „Platoon“
       zu hören: „How’d you get the nickname?“, fragt da einer, „Wie hast du den
       Spitznamen bekommen?“ Der andere entgegnet: „The killer?“, also „Der
       Mörder?“ Mit Fragezeichen wohlgemerkt – wieder keine klare Antwort.
       
       ## Wisperndes Säuseln
       
       Auch im Fall der Tracktitel entsteht ein Gegengewicht: „Love“, „Atlantis
       II“ und „Atlantis“ – Transzendenz und Utopie statt kriegerischer
       Auseinandersetzung. Es gibt jedoch eine Lösung für diese Kette von
       Uneindeutigkeiten. Die heißt, dass Carsten Jost unter seinem bürgerlichen
       Namen David Lieske nicht nur Mitbegründer des Elektronik-Labels Dial
       Records, sondern auch als bildender Künstler tätig ist.
       
       Die Titel seiner letzten Ausstellungen? „Atlantis“ und „Platoon RL-X“. In
       Letzterer stellte er seine Biografie in den Mittelpunkt. In dieser Lesart
       wären die „Perishable Tactics“ „vergängliche Taktiken“, mit der man
       versucht, sein Leben zu führen – die aber von unerwarteten Ereignissen
       überholt werden.
       
       Entscheidend für das Album, das Josts erstes Lebenszeichen als Produzent
       seit über einem Jahrzehnt darstellt, ist das Moment der Irritation. Der
       Sound von „Perishable Tactis“ ist hypnotisch und beruhigend einerseits,
       zurückgenommen und cool bis zum Kippen Richtung Bedrohlichkeit
       andererseits. Schon das „Intro“, das Jost wie das „Outro“ mit seiner Band
       Misanthrop Ca einspielte, dräut ätherisch. Der Sound kommt aus der Tiefe:
       Wispernde Stimme säuseln unverständlich über dunkle Synthie-Wände. Eine
       einsame Gitarre, irgendwo.
       
       Sanft gleitet dieser Auftakt in „Ambush“, einem entspannten House-Track, an
       dem man den Jost-Sound seines Debütalbums von 2001 wiederzuerkennen glaubt.
       Irgendwann zieht ein Gewitter auf; aus Entspannung wird hintergründige
       Bedrohung, Regen setzt ein.
       
       ## Bedingte Gefechtsbereitschaft
       
       „Perishable Tactics“, der Titeltrack, kontrastiert Hoffnung und
       Melancholie. Man erkennt den stets leicht düsteren und
       bedeutungsschwangeren Dial-Sound, den man auch bei Lawrence oder Pantha du
       Prince findet. Gedehnte Akkorde legen sich über einen einfachen Basslauf.
       Die Bass Drum treibt zischende Hi-Hats vor sich her, ohne das Tempo zu sehr
       anzuziehen. Die bedingte Gefechtsbereitschaft des unter Decke und Netz
       versteckten Mannes auf dem Cover wird zum erträglichen Dauerzustand.
       
       Als Josts Debüt 2001 erschien, wurde es als politisches Techno-Album
       wahrgenommen. Die Zeile aus Bob Dylans „Subterranean Homesick Blues“
       inspirierte bekanntermaßen nicht nur Jost, sondern auch die militante
       linksradikale US-Gruppe „Weathermen“.
       
       Das heißt, man sollte die doppelte Lesbarkeit des Covers persönlich nehmen:
       Als Befragung des eigenen Lebens, die „Perishable Tactics“ in der
       Bewältigung desselben in militärisch übersteigerter Metaphorik vorführt.
       Die Assoziationen mit Geretteten und Kämpfenden erinnert an die politische
       Verflechtung dieses Lebens.
       
       Die Tracks auf „Perishable Tactics“ umschleichen Stimmungen, die jederzeit
       kippen können und sich ineinander auflösen. Ganz zugänglich, wie auch die
       Abgeschlossenheit des Albums durch „Intro“ und „Outro“ zeigt, wird diese
       Konstellation nie. Die Irritation bleibt: Die Reflexionen der abwesenden
       Sonne in den Falten der Rettungsdecke sind nicht zu leugnen.
       
       4 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elias Kreuzmair
       
       ## TAGS
       
   DIR Techno
   DIR elektronische Musik
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