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       # taz.de -- Retrospektive im Kino Z-Inema: Als Filme noch mutig waren
       
       > Klaus Lemkes „Paul“ ist ein radikaler Milieufilm aus dem Hamburger Kiez.
       > Ein breitbeiniges Stück Filmgeschichte.
       
   IMG Bild: Ein Kiezgangster im Schafspelz: Laienschauspieler Paul Lyss aka Paul in Klaus Lemkes „Paul“
       
       Paul kommt raus. Sieben Jahre Bau, 1974, als der Film gedreht wurde, hat
       man damit einen ganzen Zeitenumbruch verpasst. Draußen vor dem Tor warten
       die Luden, die Laufdamen, eine Pulle Schnaps – großes Hallo. Ein
       Filmbeginn, wie ihn Klaus Lemke schon mal gedreht hat: 1972, für den
       Kultfilm „Rocker“, genau wie „Paul“ eine auf dem Hamburger Kiez entstandene
       grobkörnige Fernsehproduktion, die über weite Strecken auf der
       Improvisation von Laien fußt.
       
       Doch die Lage ist anders als in „Rocker“: Das “Willkommen“ ist giftig. Paul
       kommt wieder rein – ins Milieu, in die alten Geschichten. Jimmy, längst zum
       Kiezbaron aufgestiegen, schuldet ihm eine Menge Geld. Deswegen setzt er
       einen Killer auf Paul an. Zwei Mädchen sollen ihn im Bett ablenken, Paul
       riecht Lunte und presst – in einer ziemlich unangenehmen Szene – die Infos
       aus den Mädchen raus. Paul windet sich aus der Lage und macht den Abflug –
       aus der Situation, aus dem Kiez, runter zum Hafen.
       
       Paul also kommt noch mal raus, doch im Nu kommt er schon wieder rein: In
       eine Hamburger Villa, ausgerechnet. Kunsthändlermilieu, 70er-Dekadenz, ein
       ausgelassenes Fest, ein Hauch von Warhol. Da bleibt Paul für die Nacht nun
       erst mal drin, der Gastgeber lässt sich jovial ein auf den Kiezkrakeeler,
       der mit seinem Gejohle wider den Anstand zum amüsiert-verwunderten
       Entzücken der Schickimickis Laune macht. Paul kommt rein und zum großen
       Erstaunen durch, nur klar kommt Paul nicht. Klar wird im ständigen Raus-
       und Rein- und Durchkommen aber: Paul ist einer, der nirgendwo ankommt.
       
       ## Sekt-und-Bussi-Party
       
       Das sieht man ihm an: Aus dem Knast kommt er im grauen Anzug und mit
       adrettem Haarschnitt, trägt aber eine olle Plastiktüte mit sich herum. Da
       passt nichts zum anderen, nicht zum Knast und zum Milieu, erst recht nicht
       gehört seine grandios äffische Ausgelassenheit zur
       Sekt-und-Bussi-Villenparty, wo er auf Sylvie Winter stößt, damals großes
       It-Girl, Fotomodell und Lemke-Geliebte. Die fährt den vollbreiten Paul am
       nächsten Tag auf eigenen Wunsch zurück zum Knast – da will er wieder rein.
       Am Wärter aber ist kein Vorbeikommen.
       
       Also kommt eins zum anderen: das Milieu ins Villenviertel, in einer
       atemberaubenden Sequenz der eskalierenden Enthemmung, in der Paul das
       Kunststück fertig bringt, Impulse zu setzen und dennoch Ruhepol zu bleiben.
       Paul wird gespielt von Paul Lyss und der spielt sehr wahrscheinlich sich
       selbst. Mit einer Urgewalt von körperlicher Präsenz und
       rumpelnd-knatternder Intonation, die im BRD-Film ihresgleichen sucht.
       
       Ginge es gerechter zu in der deutschen Filmgeschichte, Lyss wäre, sagen
       wir: neben Marquart Bohm, das Gesicht seiner Generation. Ein paar Filme
       spielte er für Lemke – zuvor im schönen „Sylvie“ einen tumben Matrosen –
       dann verlieren sich seine Spuren im Ungefähren. Er starb 2003.
       
       Lemke weiß, was für einen Goldschatz er an Lyss hat. Deswegen lässt er ihn
       von der Leine und schaut, was passiert: Minutenlang dreht der Film frei im
       Wahnwitz. Kaum zu glauben, was im ZDF-Fernsehfilm mal ging: Einfach mal
       zeigen, wie eine Gesellschaft zu Tisch, mit Leuten, die auf der Straße
       einander nie begegnen würden, sich minutiös in den Furor eines
       entgleitenden Tumults steigert, inklusive hilfesuchender Blicke einiger
       Überforderter Richtung Regie.
       
       ## Unter den Raritäten schlummert blankes Gold
       
       Die Gangstergeschichte, um die es ja auch noch geht, gerät zur Nebensache –
       an eine Uzi kommt Paul dann aber doch, an eine echte samt Munition, wie
       Lemke, für den zwischen Kriminalität und Filmemachen wenig Unterschied
       besteht, beteuert.
       
       Lemke – klar, das ist der mit den breitbeinigen Sprüchen, der
       „Rocker“-Regisseur. Unbenommen. Aber auch und gerade unter den Raritäten
       seiner Nebenwerke schlummert blankes Gold. Unbegreiflich, dass die
       Sendeanstalten diesen Schatz in ihren Archiven noch nicht gehoben und zur
       großen „Vintage Lemke“-TV-Retrospektive aufbereitet haben.
       
       So bleibt es an der Subkultur, die Erinnerung an diese Facette hiesiger
       Filmgeschichte wachzuhalten: Am Dienstag zeigt die „Z-Bar“ in der Reihe
       „Z-Inema“ den TV-Rohdiamanten in Anwesenheit des Regieassistenten Martin
       Müller. Dass es zu „Paul“, Paul und Lemke grandiose Anekdoten zu erzählen
       gibt, damit ist felsenfest zu rechnen.
       
       Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg
       immer Donnerstags in der Printausgabe der taz
       
       13 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Groh
       
       ## TAGS
       
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