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       # taz.de -- Erinnerung an einen Mythos: Mit Kurbel und Doppelauge
       
       > Zwei Braunschweiger Museen widmen sich der verflossenen Fotoindustrie der
       > Stadt, die einst Voigtländer und Rollei beheimatete.
       
   IMG Bild: So sah es in den Braunschweiger Rollei-Werken früher aus
       
       HAMBURG taz | In Braunschweig gibt es ein [1][Museum für Photographie], das
       sich der Geste des Fotografierens, um mit Vilém Flusser zu sprechen, in
       allen historischen wie aktuellen Auslegungen widmet. Die Stadt beheimatete
       mit Voigtländer und Rollei aber einst auch eine innovative und renommierte
       Fotoindustrie.
       
       Ein entsprechend großer Fundus alter Kameras und optischer Instrumente, die
       eher selten einmal gezeigt werden, schlummert im städtischen Museum.
       Darunter ist auch das komplette Produktarchiv der Firma Rollei mit rund 400
       Kameraprototypen verschiedener Entwicklungsstufen.
       
       Diese Rarität fiel der Stadt Braunschweig 1981 zu: Damals meldete Rollei
       nach langen Jahren wirtschaftlicher Schieflage endgültig Insolvenz an, und
       man einigte sich, Steuerschulden durch die Überlassung dieser Geräte zu
       tilgen. Auch ein Konvolut von geschätzt über 2.000 Negativen bekannter
       Fotografen wechselte im Zuge der Liquidation in die Hände eines lokalen
       Sammlers.
       
       Heidemarie Anderlik, die technikaffine stellvertretende Direktorin am
       städtischen Museum, lässt derzeit anhand einiger ikonischer Rollei-Modelle
       die Werkgeschichte aufleben und stellt auch Beispiele individueller
       fotografischer Praxis mit den legendären Apparaten vor. Und wie das so ist
       in Braunschweig, wo jeder noch jemanden kennt, der in der lokalen
       Fotogeschichte bestens Bescheid weiß, fand sich ein Kuratorenteam, das
       seinen breiten Sachverstand beisteuerte.
       
       Die Firma Rollei hätte es ohne Johann Christoph Voigtländer, Pionier
       optischer Präzisionsinstrumente, nicht gegeben. Nach Patentstreitigkeiten
       verlagerte sich das 1756 in Wien gegründete Unternehmen 1868 nach
       Braunschweig. Älteste Referenz der Ausstellung ist deshalb auch ein
       Voigtländer-Astrolabium von 1795: ein Winkelmessgerät, das in der modernen
       Landvermessung nach dem Vorbild französischer Kartografie Einzug fand.
       
       ## Kulturelle Revolution
       
       Voigtländer hatte aber auch früh die kulturelle Revolution durch die
       Fotografie erkannt. Man konstruierte die ersten exakt berechneten,
       lichtstarken Objektive für Porträtsitzungen sowie vollständige Kameras, ab
       1904 im eigenen Werk: ein kastenförmiges Ganzmetallgerät und handlichere,
       zusammenschiebbare Laufbodenkameras.
       
       Zwei langjährige Mitarbeiter, der Kaufmann Paul Franke und der Konstrukteur
       Reinhold Heidecke, gründeten dann 1920 ihre eigene Firma. Beide setzten auf
       den neuartigen Rollfilm, der nach dem Ersten Weltkrieg die große
       Negativplatte abzulösen begann und sich im Namen Rollei niederschlug.
       
       Aber erst 1928 gelang mit der zweiäugigen Rolleiflex ein Markterfolg, nun
       mit durchgreifender Wirkung auf die fotografische Praxis. Die handliche
       Kamera mit lichtstarkem Sucher war einfach zu bedienen, Zeiss-Objektive
       sicherten eine unübertroffene Bildqualität. Die Rolleiflex wurde
       internationaler Standard in der professionellen Fotografie und im
       Bildjournalismus. Sie ermöglichte einen modernen, authentisch behänden
       Bildzugriff: Fotograf, Kamera und Motiv wurden eins.
       
       Unermüdlich im Detail verbessert, so durch eine Handkurbel zum schnellen
       Filmtransport, und durch Patente geschützt, wurde bereits 1938 die 300.000.
       Kamera verkauft. Und auch nach 1939 wurden die Rolleiflex und ihre
       preiswertere Variante, die Rolleicord, in bescheidenem Umfang exportiert,
       ein eigener Luxusprospekt für den angelsächsischen Markt aufgelegt. Zuvor
       war die Firma zum NS-Musterbetrieb mit 760 Mitarbeitern avanciert, hatte
       ein neues, begrüntes Werksgelände mit hygienischen Arbeitsräumen, Kantine
       und Kindergarten bezogen sowie eine betriebliche Sozialkasse eingerichtet.
       
       ## 1950 begann der Abstieg
       
       Ähnlich dem Volkswagenwerk in Wolfsburg ebneten nach 1945 die
       Westalliierten auch Rollei den Weg zum raschen wirtschaftlichen Neubeginn.
       Schnell wurde der Export ermöglicht, 1949 die 500.000. Kamera gefertigt.
       Aber bereits mit dem Tod des Marketingstrategen Franke begann 1950 der
       wirtschaftliche Abstieg.
       
       Neue Konstruktionen entsprachen oft nicht der nun schneller wechselnden
       Nachfrage oder erschienen einfach zu spät. Eine einäugige
       Mittelformat-Spiegelreflexkamera löste erst 1966 den zweiäugigen Klassiker
       ab – der schwedische Konstrukteur Victor Hasselblad hatte da bereits mit
       seiner modularen Systemkamera Kultstatus erreicht. Und die japanische
       Konkurrenz schickte sich an, mit kompakten Spiegelreflexkameras den
       Massenmarkt zu erobern.
       
       Lediglich mit der Kleinbildkamera Rollei 35, gut zigarettenschachtelgroß,
       gelang 1966 noch einmal ein Achtungserfolg, sogar gegen die teurere
       Konkurrenz Leica. Die 1970 nach Singapur verlagerte Fertigung war dann
       allerdings der finale Qualitäts- wie Imageverfall. Wie eine letzte
       geschmacksverwirrte Entgleisung erscheint das 1980 gefertigte vergoldete
       Modell mit Echsenlederbesatz, selbst wenn es nachgewiesenermaßen auch
       einmal die Queen benutzte.
       
       Rolleiflex und Co. haben vielen Fotografen gedient oder sie inspiriert.
       Heinrich Heidersberger fing den Charme der Nachkriegsmoderne ein – auch der
       neuen Produktionsräume der Rollei-Werke, vom lokalen Stararchitekten
       Friedrich Wilhelm Kraemer 1955 fertiggestellt.
       
       Ein künstlerischer Exkurs des [2][Museums für Photographie] „Andere
       Situationen“ thematisiert die Kulturtechnik des Fotografierens, mit
       Fortsetzung im eigenen Haus: Der Schriftsteller Jürgen Becker etwa
       vertauschte 1972 das Wort gegen das Bild. Er ließ sich mit der kleinen
       Rollei 35 durch New York treiben. Und der diesjährige Documenta-Teilnehmer
       Hans Eijkelboom setzt jedes seiner Lebensjahre in Bezug zu einem
       zeitgenössischen Kameramodell, auch einer Rollei. So hält sich der Mythos.
       
       Bis 25. Juni, Haus am Löwenwall, Steintorwall 14, Braunschweig
       
       18 Apr 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.photomuseum.de/
   DIR [2] http://www.photomuseum.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Maria Brosowsky
       
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