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       # taz.de -- Fotobuch über US-Sozialsiedlung: Wege zu einem besseren Leben
       
       > Jeffrey A. Wolin legt ein Langzeitfotoprojekt über eine US-Sozialsiedlung
       > vor. Darin haben die Bewohner die Deutungshoheit über ihr Leben.
       
   IMG Bild: Ausschnitt aus: Jeffrey A. Wolin: Loretta with Daughters Sarah and Laura and Granddaughter, Madison Dixie Street, 2011
       
       Auf dem Pigeon Hill altert man schneller als anderswo. Jeffrey A. Wolins
       Protagonisten machen daraus kein Geheimnis: Mit vier Jahren haben sie die
       erste Messerstecherei gesehen, während der Vater immer besoffen und die
       Mutter abwesend waren oder umgekehrt; als Teenager sind sie oder ihre
       Freundinnen selbst schwanger geworden oder hatten Ärger mit der Polizei.
       
       „Pigeon Hill: Then + Now“ ist erst einmal vieles nicht: kein
       sozialromantisches „Schaut, wie die Armen leben!“-Projekt, kein
       Live-dabei-Chic à la Nan Goldin, auch keine betont nüchterne
       Dokumentarfotografie. Aus dem, was dann noch übrig bleibt an künstlerischen
       Optionen, hat der Fotograf Jeffrey A. Wolin eine beeindruckende Bilderserie
       geschaffen: das Leben in einer US-amerikanischen Sozialsiedlung,
       kristallisiert in einzelne Zeitpunkte, zwischen 1987 und 1991 und noch mal
       etwa 20 Jahre später.
       
       Seine Kamera ist die eines Fotografen, nicht eines Freundes oder
       Sensationensammlers. Er ist nicht dabei, wenn Crack geraucht wird, das
       Crystal der 80er und frühen 90er Jahre, wenn Kinder verprügelt werden oder
       sich Väter die Birne wegsaufen. Aber die Bewohner posieren gern vor seiner
       Kamera, des emphatischen Beobachters. „Pigeon Hill: Then + Now“ ist eine
       Fotoreihe und daneben ein kürzlich erschienenes Fotobuch auch für Menschen,
       die keinen Coffeetablebook-Table besitzen.
       
       Strategien hin zum besseren Leben gibt es einige: Großeltern kümmern sich
       nun besser um die Enkel als einst um ihre eigenen Kinder, die
       zwischenzeitlich im Gefängnis gelandet sind. Einige haben es in die
       ersehnte Mittelschicht geschafft, fahren Autorennen, haben ihr Seelenheil
       in der Pfingstgemeinde gefunden oder wollen als Polizist andere vorm
       Schicksal ihrer Weggenossen bewahren.
       
       Für Jamie, die in ihrer dysfunktionalen Familie stets lieb und artig zu
       sein hatte, liegt der Luxus eines anderen Lebens nicht im Monetären: „Meine
       Kinder haben gelernt, offen ihre Meinung zu sagen. Ich bin stolz. Stolz auf
       meine Kinder, stolz darauf, wer ich bin.“
       
       ## Verformter Rückblick
       
       Und dann gibt es Leute wie Jerrold, einer von wenigen afroamerikanischen
       Bewohnern im Buch, die es offenbar geschafft haben, die ganze Zeit über ein
       einigermaßen bescheiden-zufriedenes Leben zu führen. Auf dem Pigeon Hill.
       Wolin überlässt die Deutungshoheit über das eigene Leben seinen
       Porträtierten: Sie erzählen, was sie damals und heute so umtrieb, er
       notiert ihre Worte auf den Fotos.
       
       Das Erinnerungsvermögen mag falsch sein oder wie man heute gern sagt:
       plastisch, der Rückblick verformt durch die erreichte Zukunft. Neben denen,
       die es aus ihrer prekären Situation rausgeschafft haben, geografisch oder
       inwendig, gibt es andere, die es damals gar nicht so übel fanden: „Ich
       erinnere mich an Pigeon Hill als den perfekten Ort, um groß zu werden“,
       steht auf Davids Kinderfoto geschrieben: Er trägt BATMAN-Shirt und
       Riesenbrille, der Kamerablitz lässt die Augen in seinem runden Gesicht
       erschrocken aufreißen. Im Arm trägt er ein Gewehr.
       
       „Dieses Foto erinnert mich an all den Spaß, den meine Freunde und ich beim
       Radfahren und Kriegsspielen hatten. Ich hatte keinen Haufen an
       Verantwortungen damals.“ Heute ist er auf Bewährung aus dem Knast, weil er
       seiner Ex keinen Unterhalt zahlen konnte, wollte oder beides. Danny wird
       1988 in einem Rockstar-Setting fotografiert, er lacht mit dicker Zahnlücke
       von den Ledersitzen seines abgeranzten Wagens: „Es gab gute Zeiten damals.
       Ich hatte einen großartigen Hund, Willard, meine Freundin, Tina, und ein
       Auto.“
       
       Heute ist er obdachlos, was ein Pigeon-Hill-Bewohner anders ausdrückt: „Ich
       bekomme Mahlzeiten im Shalom Center. Wenn ich muss, schlafe ich in einem
       Graben am Twin-Lakes-Erholungscenter.“ Und Steve, der heute im Unterhemd
       Arm in Arm mit seinem Sohn posiert, weiß, dass auch die relative
       finanzielle Besserung ihren Preis hat: „Ich mag arm gewesen sein als Kind,
       aber jetzt arbeite ich so viel, dass es keine Rolle spielt – ich habe keine
       Zeit fürs Leben.“
       
       20 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina J. Cichosch
       
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