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       # taz.de -- Essay zum Yom Ha-Shoah: Heißes Gedenken, kaltes Gedenken
       
       > Dreimal jährlich wird in Israel und Deutschland an die Schoah erinnert.
       > Auf je ganz unterschiedliche Weise. Einfach ist es nie.
       
   IMG Bild: Wie der Shoah gedenken?
       
       Um 10 Uhr morgens am 24. April hört man landesweit Sirenen, Autofahrer
       halten mitten auf der Straße. In den Büros, Fabriken und Supermärkten
       Stille, zwei Schweigeminuten zur Erinnerung an die Schoah, [1][den
       Holocaust]. Damit schließt auch der jährliche Gedenkzyklus, der mit dem 9.
       November, der „Kristallnacht“ beginnt, über den 27. Januar, die „Befreiung“
       von [2][Auschwitz], weiterführt und dann mit der Erinnerung an den Aufstand
       im Warschauer Getto abschließt. Das israelische Drama im
       Gedächtnistheater ist bewegend: Eine ganze Nation, obwohl innerlich
       gespalten, fühlt sich eins in der Erinnerung, wobei der Gedenktag im April
       außerhalb Israels wenig Beachtung findet.
       
       Gedenktage erinnern an bewegende Ereignisse, haben jedoch schnell auch ihre
       eigene Bewegung. Der 27. Januar wurde in Deutschland 1996 mit einer
       programmatischen Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog
       eingeführt. Der 27. Januar wurde 1995 von der UNO zum [3][Internationalen
       Holocaust-Gedenktag] erklärt, anlässlich des 50. Jahrestags der Befreiung
       der Konzentrationslager.
       
       Diese Resolution beinhaltete jedoch zweierlei: eine erneute Affirmation der
       Universal Declaration of Human Rights der UNO von 1948 als Rahmen,
       andererseits den Holocaust als Mahnung, weitere Völkermorde und
       Menschenrechtsverletzungen aufzuhalten. Der Holocaust wurde also benutzt,
       um die Menschenrechte zu betonen. Das Verbrechen am jüdischen Volk spielte
       nur eine geringe Rolle.
       
       Am 3. Januar 1996 proklamierte Herzog auch für Deutschland diesen 27.
       Januar als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“,
       vulgo Holocaust-Gedenktag. Die Frage der Kollektivschuld Deutschlands
       sollte nicht mehr im Vordergrund stehen. Stattdessen ging es ihm um
       „Kollektivverantwortung“. Holocaustgedenken als Antidote gegen den
       Missbrauch der Menschenwürde.
       
       ## Betreten, nicht befreit
       
       Ich möchte behaupten, dass die apathische Ereignislosigkeit am 27. Januar
       1945, als die Rote Armee Auschwitz – nein, nicht befreite, sondern betrat,
       auch die Abstraktheit des Gedenkens geschaffen haben. Zu jenem Zeitpunkt
       war Auschwitz längst evakuiert, die halbwegs dazu noch fähigen Gefangenen
       befanden sich auf den Todesmärschen in Schnee und Eis, und nur etwa 7.500
       Kranke und Sterbende waren zurückgelassen worden.
       
       Der Begriff der „Befreiung“ ist allemal aufbauender als das damalige Drama
       auf den Straßen, die Erschießungen noch kurz vor Kriegsende. Wer also
       diesen Gedenktag als jüdisch zentriert missversteht, hat den
       universalisierenden, doch deutschen Diskurs auch der vielen Gedenkreden zu
       diesem Tag nicht wahrgenommen.
       
       Eine Ausnahme war die Bundestagsrede [4][Ruth Klügers] 2016, die als Jüdin
       diesen Todesmarsch mit erleiden musste. Genau aus dieser Entortung des
       Jüdischen heraus haben aber im Jahre 2006 die Spitzen des Zentralrats der
       Juden gegen ihre Missachtung als „Zaungäste“ bei der Gedenkstunde im
       Bundestag protestiert. Am deutlichsten wurde die Rolle der Juden als
       Zaungäste im vergangenen Januar, [5][als zum 27. Januar US-Präsident Trump
       die Juden mit keinem Wort erwähnte].
       
       Der 27. Januar fördert also ein kaltes, staatlich initiiertes Gedenken; und
       wo bleiben die Tage zum Gedenken an die ermordeten jüdischen Verwandten,
       das eigene jüdische Volk? Nach Kriegsende waren die Geschehnisse noch zu
       nah für ein ritualisierendes Gedenken. Die unmittelbar Überlebenden
       gedachten des „Churban“, der Verwüstung, was sich vor allem auf die
       Zerstörung der osteuropäischen Diaspora und das Ende des Aufstandes im
       Warschauer Getto (19. April 1943) bezog. In Israel proklamierte David
       Ben-Gurion 1953, zu einer Zeit, als die nationale Stimmung darniederlag,
       für den 19. April den „Yom Ha-Shoah“ als nationalen Gedenktag.
       
       ## So ganz gesamt ist das Gedenken nicht
       
       Bei näherem Hinsehen jedoch steht ein geschlossenes nationales Narrativ
       dahinter. Denn der volle Name ist „Yom Hazikaron laShoah ve-laG’vurah“ –
       Erinnerung an die Schoah und an das Heldentum der Gefallenen des
       Unabhängigkeitskriegs und späterer Kriege. Der Weg aus der Schoah geschieht
       also zunächst durch den Unabhängigkeitskrieg; folgerichtig schließen die
       Gedenktage mit Yom ha’atzmaut, dem Unabhängigkeitstag, ab.
       
       Mythisch untermauert wird das Narrativ durch den Pessach-Seder, das zwei
       Wochen zuvor stattfindende Mahl zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten,
       und daran, dass nach der Unterdrückung in der Fremde das Volk vom
       verheißenen Land Besitz ergreift. Ethno-national-jüdischer könnte das mit
       Fahnen und Fackeln ausstaffierte Gedächtnistheater kaum sein. Im Gegensatz
       zum „kalten“ Gedenken am 27. Januar ist dieses Gedenken also „heiß“,
       involviert es doch die gesamte jüdische Bevölkerung.
       
       Doch so ganz „gesamt“ auch wieder nicht. Es fragen sich die
       nordafrikanischen Juden und die Juden aus dem Jemen, Irak, Iran und
       andernorts, ob und wie sie in diesem Gedenken, zentriert auf
       aschkenasischeuropäische Juden, eingeschlossen sind. Noch bestimmter
       ausgeschlossen ist die arabische Bevölkerung Israels, die zum Yom
       ha-Atzma’ut an ihre Nakba erinnert, die von jüdischer Seite verursachte
       „Katastrophe“ der Landnahme.
       
       In Deutschland dagegen schälte sich die so genannte Reichskristallnacht,
       später „Pogromnacht“ genannt, als wichtigstes Erinnerungsdatum heraus.
       Wobei dadurch dem falschen „Schicksalstag“ vom 9. und nicht dem historisch
       korrekten 10. November das Gedenken zufiel. Das Gedenken an die
       Kristallnacht unterscheidet sich nicht nur vom israelischen
       „Heldengedenken“, sondern auch von dem des 27. Januar. Hier geht es um
       dramatische Ereignisse inmitten der deutschen Gesellschaft: Mobgewalt,
       Mord, Erniedrigung und Synagogenschändung, die im Gedächtnistheater
       dramatisch wiederaufgeführt werden. Vor allem die Performances um den 9.
       November mit jährlich Hunderten Initiativen an der Basis sind „heiße“
       Gedenkrituale.
       
       ## Der 10. November wäre die bessere Wahl gewesen
       
       Hinzu kommt, dass sich der Gegensatz zwischen heißem und kühlem Gedenken
       auch im nationalen Diskurs der Wiedervereinigung, zwischen dem euphorischen
       Fall der Mauer am 9. November und dem bürokratischen Akt des 3. Oktober
       wiederholt. Im Gegensatz zur konstruierten nationalen Erzählung im
       israelischen Beispiel scheint im deutschen Beispiel das Gegenteil
       eingetreten zu sein.
       
       Der Höhepunkt der Leipziger Montagsdemos am 9. Oktober hätte zusammen mit
       dem Fall der Mauer am 9. November demokratisches und patriotisches, mutiges
       Engagement der Bürger dargestellt und wäre es wert, ein fröhlicher
       Nationalfeiertag geworden zu sein. Stattdessen wurden Kristallnacht und
       Mauerfall sinnlos in demselben Trog des 9. November miteinander erstickt.
       Eine nationale Erzählung konnte hier nicht stattfinden.
       
       Historisch korrekt hätte es Sinn gehabt, den 9. November ausschließlich als
       Tag der Deutschen Einheit zu feiern und sich am 10. November als Tag der
       Erinnerung an die Pogrome und die Schoah Gedanken zu bürgerlichem
       Engagement und Totalitarismus zu machen, sich zu besinnen, weil dieses
       bürgerliche Engagement am 10. November 1938 ausgeblieben war. In beiden
       Fällen wird emotional-populäres Gedenken in kühle Gedenkakte umgelenkt.
       Vielleicht auch, um populärem Gedenken eine potenziell aufrührerische
       Spitze zu nehmen.
       
       Wie wird nun an das Geschehen vom 9./10. November seitens der Juden
       erinnert? In Deutschland ist, im Gegensatz zu den Großveranstaltungen in
       den USA, eher das privat-gemeindliche Lesen von Namen gebräuchlich – ein
       Erinnern, das Reflexionen über jüdisch-deutsches Zusammenleben einschließt.
       
       ## Aneignung gehört zum deutschen Gedächtnistheater
       
       Davon unterscheidet sich das Erinnern im nichtjüdischen Kontext.
       Populär-religiöse und ökumenische Elemente spielen eine wichtige Rolle. Es
       gibt Schweigemärsche und Lichtergänge zur Alten Synagoge, in Erinnerung an
       die Horden, die grölend zu den Synagogen marschierten, um sie anzuzünden.
       Diese Feiern sind noch eindringlicher, wenn jüdische „Zeitzeugen“ als
       „Gäste“ erscheinen und Jüdisches inszeniert wird – Paul Celans Todesfuge
       oder Anne Franks Tagebuch.
       
       Die Aneignung jüdischer kultureller Inhalte ist ein wesentliches Element in
       diesem deutschen Gedächtnistheater, und es muss hoch gewürdigt werden,
       dass nichtjüdische Deutsche die Erinnerung an die Schoah am Leben erhalten.
       Gleichzeitig berührt diese kulturelle Aneignung bis hin zur Mimikry von als
       jüdisch deklarierten Verhaltens- und Sprechweisen viele Juden unangenehm.
       
       Ob sie also nun die Schoah ignorieren oder sich ihrer kollektiv erinnern:
       Nichtjüdische Deutsche haben in jedem Fall ein Problem. Und die Juden in
       Deutschland haben ebenfalls ein Problem, weil in der Außenwelt die jüdische
       Katastrophe entweder universalisiert oder angeeignet wird. Dieses Problem
       wenigstens hat der israelische Yom Ha-Shoah am 24. April auch in diesem
       Jahr wieder nicht.
       
       24 Apr 2017
       
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       ## AUTOREN
       
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