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       # taz.de -- Kolumne Mithulogie: Dann lieber ‚brokkoli ban‘
       
       > Zu den Freuden der Demokratie gehört, es vollkommen normal zu finden, von
       > den Menschen angelogen zu werden, die wir wählen sollen.
       
   IMG Bild: Mit ihr kam der Brokkoli zurück ins weiße Haus: Michelle Obama.
       
       Ich liebe Demokratie, so wie ich über 40 Grad Fieber liebe. Ich bin mir
       sicher, dass mich das vor Schlimmerem bewahrt, aber im Moment möchte ich
       nur schreien und mir mit einem Hammer auf den Kopf hauen.
       
       Die Türkei hat nicht Hayır gestimmt. Oder vielleicht doch, bloß wurden so
       viele ungültige Stimmzettel für gültig erklärt, dass es eine schmale
       Mehrheit für Evet gab. Alles legal, verteidigte sich Erdoğan: „Woher
       bezieht die Demokratie ihre Macht? Vom Volk.“ Und damit das Volk nicht noch
       einmal spricht, verlängert er einen Tag nach der Wahl den Ausnahmezustand.
       
       Das ist der wilde Osten mit seinen wütenden Wählern, die sich nach einem
       starken Mann – sprich: Diktator – sehnen. Pardon, ich wollte natürlich
       Westen schreiben. Aber ich habe bereits an anderer Stelle ausgeführt, warum
       ich den Namen des 45. Präsidenten der Ununited States of America nicht mehr
       nennen werde.
       
       Was ist passiert, seit unsere Urgroßmütter für das Wahlrecht öffentliche
       Plätze besetzt haben? Ich sage nur Taksim und Tahrir. Wir besetzen noch
       immer Plätze und wir hätten gerne eine echte Wahl und nicht: Ihr habt doch
       freiwillig gewählt, Bürgerrechte abzubauen.
       
       Das Schlimme an Marine Le Pen, die derweil in Frankreich ihr beängstigendes
       Lächeln grinst, ist, dass sie einen dazu bringt, in den Chor derjenigen
       einzustimmen, die sagen, dass die Wähler*innen schlicht zu dumm sind. Und
       wenn sie nicht zu dumm sind, müssen sie eben nochmal wählen.
       
       Wie 2008, als Irland über den Vertrag von Lissabon abstimmen sollte – der
       die Verbesserung von Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit nur erlaubt,
       wenn die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft dadurch nicht beeinträchtigt
       wird – und sich eindeutig dagegen entschied, und 2009 halt noch einmal
       wählen musste.
       
       Da hatten sie ihre Lektion gelernt: Wenn wir noch einmal nein sagen, müssen
       wir so lange weiterwählen, bis wir richtig stimmen. Wie Henry Ford so schön
       sagte: Du kannst dein Auto in jeder Farbe haben, die du willst, solange es
       schwarz ist.
       
       Oder natürlich das griechische Referendum 2015, in dem rund zwei Drittel
       für ein Ende der Austeritätspolitik stimmten, obwohl die Europäische
       Zentralbank vorher die griechischen Banken geschlossen und alles in ihrer
       Macht stehende unternommen hatte, die Wähler*innen zu entmutigen.
       
       Hörten die Politiker*innen, die ein Jahr später bei der Brexit-Wahl sagten,
       man müsse die Stimme des Volkes akzeptieren, auf die Stimme des
       griechischen Volkes? Blödsinn.
       
       Zu den Freuden der Demokratie gehört – wenn Freude bedeutet, vor
       Verzeiflung auf einem Bein zu hüpfen –, es vollkommen normal zu finden, von
       den Menschen angelogen zu werden, die wir wählen sollen, auf Grund eben
       dieser Lügen. Warum sonst gingen die Briten freiwillig zur Urne, um über
       In-der-EU-Sein-oder-Nichtsein abzustimmen, obwohl beide Seiten zugaben, sie
       hätten keine Ahnung von den Folgen?
       
       Ich würde gerne mit dem Scherz enden, dass Bush der Ältere als eine seiner
       ersten Amtshandlungen im Weißen Haus Brokkoli verbot. Schließlich ist ein
       brokkoli ban deutlich besser als ein muslim ban.
       
       In Wahrheit habe ich jedoch heute meine Wahlbenachrichtigung aus dem
       Briefkasten geholt und gedacht: Na, endlich. Ich möchte Wahlen, bei denen
       wir das Gefühl haben, dass unsere Stimmen zählen, dass die Menschen, die
       wir wählen, wirklich an uns interessiert sind, dass wir ein Teil dieser
       Gesellschaft sind. Kein Scherz.
       
       24 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mithu Sanyal
       
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