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       # taz.de -- Die Wahrheit: Lauter Aschenbechergesichter
       
       > Alte Filme wiedergesehen: „Angst essen Seele auf“. Ein komisches
       > Meisterwerk mitten aus dem tiefen Elend der Siebzigerjahre.
       
   IMG Bild: Lechtenbrink im Theaterstück „Leben, so wie ich es mag“ in Hamburg 2014
       
       Wenn bei uns früher in der Schule etwas schieflief – wenn zum Beispiel ein
       Lehrer krank oder zu betrunken zum Unterrichten war –, wurde ein Film
       gezeigt. Das ist heute immer noch so, wie mir gestern eine unter meiner
       Erziehungsgewalt stehende Gewährsperson berichtete. Der Unterschied ist,
       dass man die Freistundenvermeidung inzwischen mithilfe von DVDs und
       Flachbildschirmen oder Beamern erledigt, wir hingegen in den „Mädchenraum“
       gehen mussten, um uns dort eine ratternde und knatternde 16-mm-Kopie eines
       Filmes über die Lebensumstände des europäischen Feldhamsters oder über den
       Mauerbau anzusehen.
       
       Hin und wieder gab es auch „Fiction“: „Die Brücke“ von Bernhard Wicki oder
       „Angst essen Seele auf“ von Fassbinder. Das waren die einzigen Spielfilme,
       die sich dauerhaft im Besitz der Schule befanden und nicht extra
       angefordert werden mussten. Den Antikriegsfilm von 1959, in dem viele
       später sehr bekannte deutsche Fernsehnasen wie Fritz Wepper und Volker
       Lechtenbrink debütierten, hatte ein geläuterter Weltkriegs-Zwei-Veteran
       angeschafft, für den Erwerb des Fassbinder-Films war einer der
       gesellschaftskritischen und gastarbeiterfreundlichen 68er-Referendare
       verantwortlich.
       
       Fassbinder war klar unser Favorit: Der Film war in Farbe, hatte eine
       wuchtige Aussage, wagte etwas, und ungefähr nach 50 Minuten war nicht nur
       ein attraktiver nackter Mann, sondern sogar kurz ein Penis zu sehen. Das
       hatte man nicht oft und faszinierte uns je nach Geschlecht, sexueller
       Orientierung und ästhetischem Interesse aus verschiedenen Gründen.
       
       Wenn man sich den Film heute anschaut, gruselt es einen. Die Atmosphäre,
       die Bilder, die Gesichtsausdrücke sind so bedrückend und armselig, dass man
       reflexartig denkt: Boah, gut dass man in der Zeit, in der der Film spielt,
       nicht gelebt hat. Bis einem einfällt: Scheiße, man hat ja damals gelebt.
       Zwar in klein, aber trotzdem. Und die unheimlichen Bilder sind alle
       abgespeichert, irgendwo zwischen dem ersten gesehenen Zombiefilm und dem
       Stillleben der plattgefahrenen Katze auf dem Zebrastreifen vor der Schule.
       
       In den Siebzigern war dieses Elend jedoch normal und wurde nicht als
       übermäßig deprimierend wahrgenommen: die Kittelschürzen, das fahle Licht in
       den halbvertäfelten Kneipen, die hilflos geblümten Tapeten und die
       Hölzernheit der Menschen, die einen dekorativen Gegensatz zur angestrengten
       Modernität der Umgebung bildete.
       
       Besonders fasziniert die Künstlichkeit der stilisierten Umgangssprache.
       Kein Mensch sprach so. Auch nicht in den Siebzigern. Am eindrucksvollsten
       ist dabei das wohlgesetzte Old-School-Kanak-Deutsch der Hauptfigur „Ali“
       (!). Der Marokkaner redet meist in Infinitiven: „Du nix Mann verheiratet?“
       Oder: „Ali nix schläft, viel Gedanken im Kopf. Will sprechen mit Dir.“
       
       Auch das fiel mir damals nicht auf. Heute ist es mir klar: Ali redete wie
       Winnetou! Ali war ein edler Wilder, Brigitte Mira sein Old Shatterhand. Und
       Fassbinder war: Karl May.
       
       26 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hartmut El Kurdi
       
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