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       # taz.de -- Kunst und Wahrheit: Medienkunst im Fake-News-Zeitalter
       
       > Das European Media Art Festival (EMAF) in Osnabrück macht bei seiner 30.
       > Ausgabe die Reizüberflutung der Medien zum Thema
       
   IMG Bild: Magisch oder alltäglich? Die Installation „A Truly Magical Moment“ von Adam Basanta
       
       Im Foyer begrüßt ein Maschinenwesen das Publikum. „The Reader“ heißt die
       Skulptur des in London lebenden Künstlers Stanza, einem Pionier der
       Medienkunst. Die Figur wurde mit einem 3-D-Scan Stanza selbst
       nachempfunden. Jetzt steht sie da: im Hoodie und den Kopf über ein Buch
       gebeugt, während Wörter und Satzfetzen auf die über 100 Displays ihres
       Körpers laufen.
       
       Einen Sinn ergeben die Sprachfetzen nicht. Zwar sind sämtliche
       digitalisierte Bücher der British Library seit 1952 im „Reader“
       gespeichert. Allerdings in fragmentierter Form. Ausstellungsbesucher können
       so lange auf die Displays starren, wie sie wollen. Klüger werden sie nicht.
       
       Der elektronische Leser gehört zur Ausstellung der 30. Ausgabe des European
       Media Art Festivals (EMAF) in Osnabrück. Bis Sonntag erobern Medienkünstler
       mit Filmen, Musik- und Performanceprogrammen, Vorträgen und dem Media
       Campus als Forum für Studierende wieder die 160.000 Einwohner starke Stadt.
       Die Ausstellung mit 36 Beiträgen in der Kunsthalle Osnabrück ist noch bis
       Mitte Mai zu sehen.
       
       ## Politik der Lüge
       
       Die buchstäblich mit Daten gefütterte Skulptur von Stanza steht symbolisch
       für das diesjährige Festivalthema: „Push – Leben in Zeiten der
       Hyperinformation“. Das Thema hätte das EMAF-Team schon im vergangenen
       Sommer festgelegt, sagt Ausstellungskurator Hermann Nöring. Damals glaubte
       kaum jemand, dass Donald Trump die USA quasi per Twitter regieren würde. Es
       war kaum die Rede von Fake News und schon gar nicht von den „alternativen
       Fakten“ der Trump-Beraterin Kellyanne Conway. Sehr wohl präsent waren
       Push-Meldungen, News-Updates, Hasskommentare – kurz gesagt: Reizüberflutung
       aller digitaler Orten.
       
       Nöring sieht die Informationsflut kritisch, aber nicht einseitig als
       Problem. Der unbegrenzte Zugang dazu sei auch eine Möglichkeit „der
       Demokratisierung und des Sammelns von Wissen“. Der Kurator ist deshalb
       gegen eine Art „Wahrheitspolizei“ im Internet. „Wir brauchen vielmehr
       Kompetenz zur Wahrheitsfindung“, erklärt er.
       
       Das EMAF bietet allerdings keine Lösungen. Vielmehr werfen die
       KünstlerInnen in ihren Arbeiten Fragen auf und gehen spielerisch mit den
       technischen Möglichkeiten um. Eine Chance auf den absoluten
       Publikumsliebling der EMAF-Ausstellung hat dabei: „Rollator“. So schlicht
       betitelt Fabian Kühfuß seine Arbeit, die genau das ist, was der Name sagt.
       Nur dass dieser Rollator ohne jegliche menschliche Hilfe durch die Gegend
       rollt und sein eigentlicher Sinn damit auf den Kopf gestellt wird.
       
       Bei aller Spielerei steckt hinter Kühfuß’ Arbeiten eine ernste Frage: Was
       passiert, wenn die Technik den Menschen mehr und mehr ersetzt? Wenn etwa
       Drohnen selbst die Entscheidung zu einem Angriff treffen? Dafür brauche es
       eine eigene Ethik, fordert der Künstler.
       
       Bei aller Ernsthaftigkeit – die menschliche Empathie spricht der
       selbstfahrende Rollator trotzdem an, wie er da mutter- oder besser
       omaseelenallein durch das Kirchenschiff des einstigen Dominikanerklosters
       kullert und an manch einer Fliese stocken bleibt. FestivalbesucherInnen
       werden dem putzigen Wesen sicher gern helfen.
       
       Eine vollkommen andere Wirkung hat Thomas Hirschhorns Videoinstallation
       „Touching Reality“. Er zeigt Kriegsbilder aus dem Internet – und zwar
       diejenigen, die bei der Berichterstattung hierzulande weggelassen werden.
       Reihenweise Tote liegen auf den Straßen, viele mit blutverschmierten oder
       gar verätzten Gesichtern.
       
       Hirschhorn zeigt die Fotos auf einem überdimensionalen Bildschirm, auf dem
       auch die Hand zu sehen ist, die die Bilder auf einem Touchscreen rauf- und
       runterscrollt und Ausschnitte vergrößert. So legt der Künstler den Finger
       in die Wunde einer Gesellschaft, die zwar viel weiß, diese grausame
       Realität aber nicht sehen will. Hirschhorn hält das für falsch. „Er ist
       dagegen, solche Bilder nicht zu zeigen“, sagt Franz Reimer, der die
       EMAF-Ausstellung mit Hermann Nöring kuratiert hat.
       
       ## Der geheime Iran
       
       „Touching Reality“ ist ein Beispiel dafür, dass der Trend in der
       Medienkunst hin zu politischen und gesellschaftlichen Themen geht. War sie
       in den 1990ern noch formal und experimentell, wird sie schon seit Langem
       inhaltlicher. Das gilt auch für die Filmprogramme des Festivals. Daniel
       Kötters „Hashti Tehran“ zeigt unbekannte Seiten Irans und hält in vier
       Episoden fest, wie sich die Stadt und das Land verändern.
       
       Es hat sich viel verändert, seit Hermann Nöring, Ralf Sausmikat und Alfred
       Rotert 1988 das erste EMAF veranstalteten. Damals stand der Begriff
       Multimedia noch für Performances mit verschiedenen Medien.
       
       Die Technik hat seitdem enorme Fortschritte gemacht. Und auch das EMAF ist
       nicht stehen geblieben. Das Trio Nöring, Sausmikat und Rotert leitet das
       Festival immer noch. Doch sie haben ihr Team um mehrere Kuratoren
       erweitert.
       
       Und: Seit Kurzem ist das EMAF Referenzfestival der Filmförderungsanstalt
       des Bundes (FFA). Das steigert die Bedeutung des EMAF und ist vor allem für
       Filmemacher eine gute Nachricht. Denn wird ihr Beitrag beim Festival
       gezeigt, sammeln sie Punkte, die sie berechtigen, Fördergelder bei der FFA
       zu beantragen.
       
       Doch es gibt sie natürlich weiterhin, die ästhetischen Spielereien. Schon
       nach Stanzas „Reader“ im Kunsthallenfoyer folgt Stefan Reiss’ „O.T. 875“,
       eine Installation, für die der 1993 in Rothenburg/Tauber geborene Reiss
       zweidimensionale Zeichnungen in digitale Skulpturen übersetzt hat.
       
       Eine eigene Schönheit hat auch Marco Barottis Installation „Swans“. Seine
       Schwäne sind nichts anderes als ausrangierte Satellitenschüsseln, die auf
       einem künstlichen Teich schwimmen. Wie Hälse ragen die ehemaligen
       Signalumsetzer der Anlagen nach oben. Und sie singen sogar: Barotti hat
       dafür durch Instrumente gepressten menschlichen Atem mit Bassfrequenzen
       gemischt. Mit dieser Installation gibt er dem Abfall der Medienwelt eine
       neue Funktion.
       
       European Media Art Festival: Mi, 26. 4., bis So, 30. 4., Kunsthalle
       Osnabrück; Ausstellung „Push“: bis So, 21. 5.
       
       26 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anne Reinert
       
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       sich gut, dass Japan der Themenschwerpunkt ist.