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       # taz.de -- Moss das sein?
       
       > Die allgemeine Empörung über den Drogenkonsum des Models Kate Moss (31)
       > ist ein besonders schönes Beispiel für öffentliche Heuchelei – weil sie
       > aus ihrem Lebensstil nie einen Hehl gemacht hat
       
       VON MARTIN REICHERT
       
       Wenn es nach den Vorstellungen ihrer Lehrer gegangen wäre, würde Kate Moss
       heute Verkäuferin bei Woolworth sein. Stattdessen wurde sie Supermodel und
       macht seit Jahren Werbung für Modefirmen, deren Produkte ob ihrer
       Exklusivität bei Woolworth gar nicht vertrieben werden: Calvin Klein,
       Chanel, Burberry und wie sie alle heißen.
       
       Labels, die jenen Glanz versprechen, nach denen sich „kunstseidene Mädchen“
       (Irmgard Keun) in aller Welt sehnen, die Kate Moss zu ihrer Ikone, zu ihrem
       Role Model erklärt haben. Mädchen zumeist, die nicht den Hauch einer Chance
       haben, einmal in ihrem Leben so reich und berühmt zu werden wie Kate,
       geschweige denn, es ihr in ihrer Vorliebe für Kokain gleichzutun: Diese
       Droge ist einfach zu teuer für Woolworth-Verkäuferinnen und Sekretärinnen,
       das Gramm wird in Europa zu Preisen zwischen 40 bis 70 Euro gehandelt.
       
       Kokain ist ureigentlich die Droge all derer, die nun zur Treibjagd auf das
       angeblich vom rechten Weg abgekommene Supermodel geblasen haben:
       Journalisten, Staatsanwälte, Modemacher, Journalisten. Die selbst ernannte
       Kreativ-Elite pudert sich schon lange das Näschen – wenngleich die
       aristokratische Anmutung der „Szenedroge“ zu verblassen droht, denn
       mittlerweile greifen auch Lehramtsreferendarinnen und Taxifahrer
       gelegentlich – je nach Füllung der Geldbörse – nach dem weißen Pulver,
       dessen Wirkung Sigmund Freud wie folgt beschrieben hat: „Die psychische
       Wirkung des Cocainum besteht in einer Aufheiterung und anhaltender
       Euphorie, die sich von der normalen Euphorie des gesunden Menschen in gar
       nichts unterscheidet. Man fühlt eine Zunahme der Selbstbeherrschung, fühlt
       sich lebenskräftiger und arbeitsfähiger.“ Perfekt, wenn man unter hohem
       Druck in einem Beruf arbeitet, in dem man über andere berichtet und
       richtet, die Funktionsfähigkeit wird nicht nur erhalten, sondern sogar
       gesteigert.
       
       Kate Moss hat sich unter dem Druck der medialen Öffentlichkeit und
       angesichts wegbrechender Werbeverträge öffentlich für ihren Kokainkonsum
       entschuldigt, in guter angelsächsisch-protestantischer Tradition. Bekenne
       deine Sünden vor allen, und dir wird verziehen werden.
       
       Eine derart verlogene Gesellschaft ist nur unter Drogeneinfluss zu
       ertragen, es sei denn, man begegnet ihr mit der kühlen Strenge einer
       Catherine Deneuve: „Ça ne vous interesse pas!“ – in einem Fernsehinterview
       wies sie darauf hin, dass es doch wohl niemanden etwas anginge, wenn Kate
       Moss ihr Privatleben ruiniert.“ Entschuldigen bei wem eigentlich? Schuldig
       ist, wenn überhaupt, nur eine Gesellschaft, die sich weigert, den Tatsachen
       ins Auge zu blicken. Kokainkonsum ist wie der sanktionierte Genuss von
       Alkohol eine soziale Realität, und die damit einhergehenden Probleme sind
       hauptsächlich der Repression geschuldet. Gestrecktes Kokain verursacht
       Gesundheitsschäden, die Anbau- und Verteilungsinfrastruktur befindet sich
       in den Händen von Kriminellen und fordert Opfer – beispielsweise junge
       Südamerikanerinnen, die in ihrer Not Kokain in ihrem Körper exportieren und
       dabei sterben.
       
       Als eine der schlimmsten psychischen Nebenwirkungen des
       Kokain-Langzeitkonsums wird der Verfall des Gewissens beschrieben: Bedingt
       durch die selbstbewusstseinssteigernde Wirkung der Droge verblasst
       allmählich das soziale Bewusstsein – der nächste Wischtest auf den
       Toiletten des Reichstags kommt bestimmt –, und auch einige professionellen
       Beobachter des dortigen Treibens müssten einen solchen fürchten: Mit Koks
       im Blut lässt sich der Kanzler doch gleich zweimal so gut wegschreiben.
       Kokain ist eine Ego-Droge.
       
       Viele der Menschen, die Kate Moss nun öffentlich fallen lassen wie eine
       heiße Kartoffel, hätten es selbst ziemlich cool gefunden, mal mit Kate Moss
       eine Line auf dem Klo zu ziehen und anschließend damit anzugeben.
       
       Aber Kate steht halt mehr auf Musiker, auf Rock ’n’ Roll, auf ihren Freund
       Pete Doherty. Sie lebt das Leben, das sie als öffentliche Figur darstellt.
       Sie ist nicht nur in den Musikvideos der White Stripes, Primal Scream und
       Johnny Cash als Model aufgetreten, sondern Teil dieser Szene geworden. Sie
       war nie dafür bekannt, ein braves Mauerblümchen zu sein, das abends mit
       einer Tasse Jasmintee vor dem Fernseher sitzt. Anders als bei den
       mittlerweile oft gefälschten Labels, für die sie geworben hat, gilt: Wo
       Kate Moss draufsteht, ist auch Kate Moss drin.
       
       27 Sep 2005
       
       ## AUTOREN
       
   DIR MARTIN REICHERT
       
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