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       # taz.de -- Nach dem Referendum in der Türkei: Weiter per Dekret regieren
       
       > Die türkische Regierung will den Ausnahmezustand in der Türkei zum
       > dritten Mal verlängern. Die Opposition fordert indessen, den
       > Volksentscheid zu annullieren.
       
   IMG Bild: Nach dem Verfassungsreferendum erwägt Staatschef Erdogan, den Ausnahmezustand zu verlängern
       
       Ankara/Berlin rtr/afp/dpa | Die türkische Regierung denkt nach dem
       Verfassungsreferendum über eine weitere Verlängerung des Ausnahmezustands
       nach. Der Nationale Sicherheitsrat sollte noch am Montag darüber beraten,
       wie Vize-Regierungschef Nurettin Canikli dem TV-Sender A Haber sagte.
       Gleich anschließend werde sich das Kabinett damit befassen, das dann unter
       Leitung von Staatschef Recep Tayyip Erdogan im Präsidentenpalast tagen
       werde.
       
       [1][Der Ausnahmezustand wurde nach dem gescheiterten Putsch am 15. Juli
       vorigen Jahres verhängt] und dann bereits zwei mal verlängert, zuletzt bis
       Mitte April. Erdogan begründete dies mit dem Kampf gegen die Unterstützer
       des Putsches. Dadurch kann die Regierung ohne Zustimmung des Parlaments
       Gesetze in Kraft setzen. Zudem wurden die Bürgerrechte eingeschränkt.
       Kritiker befürchten, Erdogan wolle die Maßnahmen zum Ausschalten jeglicher
       Opposition nutzen.
       
       Die Türkei hatte sich am Sonntag laut Wahlbehörde mit knapper Mehrheit für
       eine Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem entschieden, das
       Erdogan deutlich mehr Macht gibt. Die Gesetzesänderungen für die neuen
       Befugnisse dürften innerhalb eines Jahres abgeschlossen sein, sagte
       Canikli. Sein Kollege als Vize-Ministerpräsident Mehmet Simsek sagte zu
       Reuters, Neuwahlen seien nicht geplant.
       
       Das Regierungslager hatte den Volksentscheid über die Stärkung der Macht
       von Präsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag mit 51,4 Prozent knapp
       gewonnen, wie die Medien nach Auszählung fast aller Stimmzettel meldeten.
       48,6 Prozent der Türken lehnten dagegen die umstrittenen
       Verfassungsänderungen ab.
       
       Ein türkischer Oppositionsvertreter hat die Annullierung des Referendums am
       Sonntag gefordert. „Es gibt nur eine Entscheidung, um im Rahmen des
       Gesetzes die Situation zu entspannen – die Hohe Wahlkommission sollte die
       Abstimmung annullieren“, sagte der stellvertretende Vorsitzende der
       Republikanischen Volkspartei (CHP), Bülent Tezcan, am Montag laut der
       Nachrichtenagentur Dogan.
       
       Die CHP hatte zuvor ebenso wie die prokurdische HDP von einer
       „Manipulation“ des Volksentscheids gesprochen und eine Neuauszählung eines
       Teils der Stimmzettel gefordert. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu
       hatte am Sonntagabend gesagt, die Wahlkommission habe „einen dunklen
       Schatten auf die Entscheidung des Volkes geworfen“.
       
       ## Die Bundesregierung ist bereit zum Dialog
       
       Zuvor hatte die Wahlkommission in einem umstrittenen Schritt entschieden,
       nicht offiziell zugelassene Stimmzettel als gültig zu akzeptieren, solange
       nicht bewiesen sei, dass sie von außerhalb in die Wahlkabine gebracht
       wurden. Zahlreiche Wähler hatten kritisiert, dass ihnen bei der Abstimmung
       Stimmzettel ohne den offiziellen Stempel ausgehändigt worden seien.
       
       Die Bundesregierung hat die türkische Regierung nach dem
       Verfassungsreferendum zur Dialogbereitschaft aufgefordert. „Der knappe
       Ausgang der Abstimmung zeigt, wie tief die türkische Gesellschaft gespalten
       ist“, erklärten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister
       Sigmar Gabriel (SPD) am Montag in Berlin.
       
       Die Bundesregierung nehme das vorläufige Abstimmungsergebnis zur Kenntnis
       und erwarte von der Regierung in Ankara, dass diese „nach einem harten
       Referendumswahlkampf einen respektvollen Dialog mit allen politischen und
       gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht“.
       
       Merkel und Gabriel erklärten, angesichts der [2][Bedenken des Europarats
       hinsichtlich des Verfahrens] und der Inhalte der Verfassungsänderung müsse
       es schnellstmöglich Gespräche mit der Türkei auf bilateraler Ebene und mit
       den europäischen Institutionen geben. Der Einschätzung der
       OSZE-Wahlbeobachter messe die Bundesregierung besondere Bedeutung bei.
       
       ## Unausgewogener Wahlkampf
       
       Die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
       Europa (OSZE) haben dem Referendum zahlreiche Mängel attestiert. „Das
       Verfassungsreferendum am 16. April hat unter ungleichen Bedingungen
       stattgefunden“, heißt es in dem am Montag in Ankara vorgestellten
       vorläufigen Bericht der OSZE-Mission.
       
       „Die beiden Seiten der Kampagne haben nicht die gleichen Möglichkeiten
       gehabt. Wähler wurden nicht mit unabhängigen Informationen über zentrale
       Aspekte der Reform versorgt.“ Unter dem Ausnahmezustand seien außerdem
       Grundfreiheiten eingeschränkt gewesen, „die für einen demokratischen
       Prozess wesentlich sind“.
       
       Die Wahlbeobachter bemängelten außerdem einen „Missbrauch staatlicher
       Ressourcen“ des Lagers von Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Auch durch die
       „aktive Beteiligung des Präsidenten“ sei der Wahlkampf unausgewogen
       gewesen.
       
       OSZE-Missionschefin Tana de Zulueta sagte in Ankara, es sei nicht Aufgabe
       der OSZE, über die Legalität des Referendums zu entscheiden. Der Leiter der
       Delegation der Wahlbeobachter-Mission des Europarates, Cezar Florin Preda,
       sagte am Montag in Ankara: „Im Allgemeinen blieb das Referendum hinter
       Standards des Europarates zurück.“
       
       ## Vertreter der Opposition nicht zugelassen
       
       In dem OSZE-Bericht heißt es, die rechtlichen Rahmenbedingungen seien
       ungenügend dafür gewesen, „ein wirklich demokratisches Referendum
       abzuhalten“. So hätten Provinzgouverneure den Ausnahmezustand dazu genutzt,
       die Versammlungs- und die Redefreiheit einzuschränken.
       
       Die Arbeit der Wahlbehörden sei nicht ausreichend transparent gewesen. Die
       Vertretung der politischen Parteien an den Urnen sei negativ beeinflusst
       worden, indem 170 von der Opposition nominierte Vertreter nicht zugelassen
       worden seien. Die OSZE stellte auch fest, dass Menschen, die aus den
       umkämpften Kurdengebieten geflohen seien, nicht in der Lage gewesen seien,
       abzustimmen.
       
       Die OSZE und die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hatten
       internationale Wahlbeobachter in die Türkei entsandt. Insgesamt waren es
       nach Angaben der OSZE 63 Beobachter aus 26 Ländern. Die internationalen
       Vertreter konnten aber nur stichprobenartig beobachten.
       
       17 Apr 2017
       
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