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       # taz.de -- Cem Özdemir über türkisches Referendum: „Für Erdoğan sind Gesetze biegsam“
       
       > Das Referendum zeigt: Erdoğan kann unter demokratischen Bedingungen kaum
       > mehr eine Wahl gewinnen, sagt der Grünen-Chef.
       
   IMG Bild: Der Mensch verschwindet hinter der nationalistischen Symoblik
       
       taz: Herr Özdemir, was schätzen Sie, muss das Referendum neu ausgezählt
       werden? 
       
       Cem Özdemir: Mindestens die Hälfte der TürkInnen haben sich trotz aller
       Repressalien und Einschüchterungen gegen die orientalische Despotie
       ausgesprochen, das muss man erst mal festhalten. Man kann also davon
       ausgehen, dass Erdoğan unter demokratischen Bedingungen Wahlen nur schwer
       gewinnen kann.
       
       Wird neu ausgezählt? 
       
       Das Referendum hat westliche Demokratiestandards nicht erfüllt, ein Teil
       der Opposition musste ihren Wahlkampf aus dem Gefängnis führen, sie hatten
       keinen gleichen Zugang zu den Medien und es gab kritische Anpassungen der
       Auszählungsregeln. Aber es würde mich wundern, wenn neu ausgezählt würde,
       denn die Türkei ist kein demokratischer Rechtsstaat mehr.
       
       In Deutschland gab es eine Mehrheit für die Verfassungsänderung, in den USA
       oder in der Schweiz waren es nur Minderheiten, woher kommt der Unterschied? 
       
       Man darf nicht verhehlen, dass das Ergebnis die deutschen
       Integrationsversäumnisse unter dem Brennglas zeigt: Wer den TürkInnen
       Jahrzehnte lang erzählt, sie gehörten hier nicht hin, wie es insbesondere
       die CDU und CSU gemacht haben, muss sich über eine Türkei-Orientierung
       nicht wundern. Der deutsche Staat war aber vielleicht auch zu naiv. Wer
       gegen deutsche Pegida demonstriert, darf bei der türkischen Pegida nicht
       schweigen.
       
       Bedeutet das, dass die Deutschtürken, die mit Evet gestimmt haben, keine
       Demokraten sind? 
       
       Bei einem Teil muss man sicher von verfestigten nationalistischen und
       fundamentalistischen Einstellungen ausgehen. Die anderen aber werden von
       Erdoğan schlicht als Geiseln benutzt, um die Eskalation mit Deutschland und
       der EU voranzutreiben.
       
       Welche Änderungen der Verfassung verstoßen konkret gegen die Prinzipien der
       EU? 
       
       Es geht um die dahinterstehende Haltung: Im Fall Deniz Yücel etwa
       entscheidet Erdoğan, was die Gerichte tun.
       
       Aber das geht offenbar auch ohne Verfassungsänderung. 
       
       Aber jetzt schafft er sich einen „legalen Rahmen“ mit kaum Machtkontrolle
       für den Präsidenten. Der kontrolliert das Parlament und nicht umgekehrt.
       Die Vergleiche mit den USA etwa führen in die Irre: In den USA sind es
       Richter, die Erlasse des Präsidenten außer Kraft setzen können, das ist in
       der Türkei nicht vorstellbar: Da setzt der Präsident die Entscheidungen von
       Gerichten außer Kraft und künftig auch die des Parlaments.
       
       Aber das Parlament kann doch künftig Dekrete stoppen, durch eigene Gesetze
       zum selben Problem. 
       
       Dann setzt Erdoğan sein Vetorecht ein oder erzwingt Neuwahlen. Er sieht
       Gesetze und Verfassungen als biegsame Masse, die einzig den Zweck haben,
       seine Macht zu zementieren. Aber Sie haben natürlich recht: Das, was ihm
       die Verfassung jetzt erlaubt, das hat er bisher de facto schon gemacht.
       
       Sollten die EU-Beitrittsgespräche nun beendet werden? 
       
       Mit diesem Präsidenten kann die Türkei nicht Mitglied der Europäischen
       Union werden. Die Verhandlungen sollten dort bleiben, wo sie sind, nämlich
       auf Eis. Sie vollständig einzustellen wäre das falsche Signal an die
       mindestens 50 Prozent, die sich unter unglaublich schwierigen Bedingungen
       für Demokratie ausgesprochen haben.
       
       Erdoğan hat gerade gesagt, so lange er Präsident sei, bleibe Deniz Yücel in
       Haft. Nun kann er nach der Verfassungsänderung mit einem ganz legalen Trick
       geradezu auf Lebenszeit im Amt bleiben. Wie ernst muss man seine Aussage
       angesichts dessen nun nehmen? 
       
       Das ist völlig willkürlich. Erdoğan braucht die permanente Eskalation, auch
       mit Deutschland, dazu nützt ihm im Moment Deniz Yücel. Solange er diese
       Funktion hat, befürchte ich, wird er im Gefängnis bleiben. Wenn sich ein
       neues Thema findet, das diese Funktion erfüllt, könnte er dann vielleicht
       ganz beiläufig freikommen.
       
       18 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heide Oestreich
       
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