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       # taz.de -- Vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen: Wenn wir hier verkacken, dann überall
       
       > NRW war immer SPD-Stammland – jetzt will die AfD ran an die Arbeiter.
       > Eine Milieu-Reportage aus Essen.
       
   IMG Bild: Früher SPD, jetzt AfD: der Essener Politiker Guido Reil am Stammtisch mit Sympathisanten
       
       Essen taz | Die Kneipe Alt-Carnap liegt an einer vierspurigen Ausfallstraße
       im Essener Norden. Draußen fliegt Müll umher, unter den Brücken kacken
       Tauben die Bürgersteige voll. Drinnen, an einem Tisch hinten in der Ecke,
       sitzt Guido Reil, der Direktkandidat der AfD, umringt von Leuten. Die
       Ellbogen auf dem Tisch, das Polohemd bis zum letzten Knopf geöffnet. Vor
       ihm ein Stauder Pils, hinter ihm eine vergilbte Wand, auf die Bauernhöfe
       gemalt sind – Essen-Karnap vor der Industrialisierung. Am Tisch gegenüber
       hat der örtliche SPD-Chef Platz genommen.
       
       Nicole Pawelczyk betritt die Kneipe und setzt sich neben Reil. Sie hat ein
       rundes Gesicht, in den Ohrläppchen stecken Kunstperlen. Plötzlich steht der
       SPD-Mann am Tisch. Er umarmt die Frau, grüßt knapp in die Runde und geht
       wieder.
       
       Noch vor einem guten Jahr hätten sie im Alt-Carnap alle zusammengesessen.
       Pawelczyk, 29, war fünf Jahre lang in der SPD, ein Jahr im Vorstand des
       Ortsvereins. 2016 ist sie gemeinsam mit ihrem Freund ausgetreten. Wegen der
       Flüchtlinge. Und wegen Reil. „Die SPD vertritt die Interessen der kleinen
       Leute nicht mehr“, sagt sie. Bei der Landtagswahl will sie AfD wählen.
       
       Das Alt-Carnap ist die letzte Kneipe im Stadtteil, zwei andere haben
       geschlossen, wie so vieles im Norden des Ruhrgebiets. Die meisten Zechen
       und Industrieanlagen haben vor Jahrzehnten dicht gemacht, danach kam nicht
       mehr viel. Einige Straßenzüge erinnern an die trostlosen,
       deindustrialisierten Zonen in Nordfrankreich. Viele, die früher Sozialisten
       und Kommunisten wählten, sind zum Front National übergelaufen. In
       Frankreich wählte die Hälfte aller Arbeiter im ersten Wahlgang Le Pen.
       Genau das will die AfD bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen
       wiederholen.
       
       ## Ein Malocher zum Vorzeigen
       
       Sie inszeniert sich im Ruhrgebiet als neue Malocherpartei gegen die alte
       SPD. Dafür hat sie hat eine Figur, die ein Geschenk für rechtspopulistische
       Kampagnenplaner ist: Guido Reil. Er ist ein Malocher zum Vorzeigen,
       arbeitet als Bergmann in der letzten Zeche in NRW, ist Gewerkschafter und
       AWO-Mitglied. Und er war 26 Jahre lang in der SPD.
       
       Die Rechtspopulisten hoffen, dass ihnen mit Reil ein Coup gelingt wie in
       Sachsen-Anhalt. Dort wurden sie auf Anhieb zur stärksten Partei bei
       Arbeitern und Arbeitslosen. Die AfD-Spitze glaubt, dass Reil im Wahlbezirk
       Essen I der SPD sogar das Direktmandat abjagen kann.
       
       Nicole Pawelczyk trat 2011 in die SPD ein. Sie wollte etwas für den
       Stadtteil machen, Karnap sollte nicht ganz vor die Hunde gehen. „Da geht
       man hier zur SPD“, sagt Pawelczyk, inzwischen hat die Wirtin ihr ein Bier
       gebracht. Mit ihrem Freund organisierte sie ein Fest auf dem Marktplatz,
       setzte sich für den Erhalt des einzigen Supermarkts ein, bekämpfte die
       Tauben unter der Brücke. Dann sollten in Karnap ein paar hundert
       Flüchtlinge in einem Zeltdorf untergebracht werden.
       
       „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge“, sagt Pawelczyk, „aber das waren für
       Karnap einfach zu viele.“ Als die Flüchtlinge kamen, hatte sie Angst,
       abends allein die Straße zu gehen. „Sowas durfte man in der SPD aber nicht
       sagen.“ Pawelcyk störte, dass viel mehr Flüchtlinge in den armen Essener
       Norden kommen sollten als in den reichen Süden. Sie engagierte sich in der
       Bürgerinitiative „Carnaper Originale“ gegen das Zeltdorf.
       
       Stephan Duda, der Mann am Nebentisch, der Pawelczyk umarmt hatte, ist in
       der SPD geblieben. Duda, 46, gilt im Stadtteil etwas. Er ist Vorsitzender
       der Karnaper SPD, des Fußballvereins, des Gartenbauvereins. Ende 2015 hatte
       er noch mit Reil und Pawelczyk protestiert. Am Schreibtisch entwarf er
       einen Flyer: „Der Norden ist voll“, stand darauf. Da kommt der
       Rechtsradikale von der SPD, das hat Duda damals öfter gehört. Ein
       komplettes Missverständnis, sagt er, hatte er doch Fußballspiele mit
       Flüchtlingen und einen runden Tisch organisiert. Duda wollte eine
       gerechtere Verteilung der Flüchtlinge in Essen, nicht mehr. Sein Slogan
       „Der Norden ist voll“ war ein Fehler, sagt Duda. Er klang wie „Das Boot ist
       voll“.
       
       Duda ärgerte sich über seine Partei, aber die SPD verlassen, das kam für
       ihn nicht infrage. „Mach dat nich“, hatte Duda zu Reil gesagt, als der zur
       AfD ging.
       
       Heute sehen sich die drei nicht mehr bei der Ortsversammlung, sondern mal
       beim Einkaufen oder eben in der Kneipe. Am Tisch mit den Abtrünnigen wird
       das nächste Bier bestellt. Nachdem Reil die SPD verlassen hatte, sprachen
       viele Genossen schlecht über ihn. „So sollte man mit niemandem umgehen“,
       sagt Pawelczyk und blickt auf Reil. „Rein menschlich schon.“ Auch sie
       verließ die SPD.
       
       Hier, im Alt-Carnap, ist die AfD kein Fremdkörper mehr. Viele, die am Tisch
       vorbeikommen, werfen Reil freundliche Worte zu. „Guido, halt ’ne gute Rede
       morgen“, sagt ein älterer Mann.
       
       ***
       
       In Essen-Frintrop ist an einem Dienstagnachmittag vor Ostern die
       sozialdemokratische Welt noch in Ordnung. Im Bürgerhaus sind die Tische eng
       zusammengeschoben. Gut hundert Rentner sind zum Treffen der
       Arbeiterwohlfahrt gekommen. Orange Gardinen, Bienenstich auf dem Teller,
       Papierdeckchen. Aus den Boxen hämmert das Clublied: „Im Herzen von
       Nordrhein-Westfalen liegt unser schönes Ruhrgebiet / Die Heimat für
       Millionen Menschen, von allen wird es geliebt“. Heimat. Menschen. Liebe.
       Einige schunkeln. Die Damen trinken Kännchen, die Herren schon mal ein
       Pils. Es riecht nach Wir und Zusammenhalt in einer Welt, die sich schnell
       verändert. Die Älteste ist 102, ihre Tochter, auch Rentnerin, sitzt neben
       ihr.
       
       Thomas Kutschaty, der SPD-Direktkandidat in Essen I, steht am Eingang des
       Saals. Er ist der Platzhirsch in Essen-Nord, der Gegenkandidat von Reil.
       Ihn muss die AfD besiegen.
       
       ## Die sozialdemokratische Erzählung als Brühwürfel
       
       „Kann ich noch rumgehen, Postkarten für die Briefwahl verteilen?“, fragt
       Kutschaty, betont bescheiden. Kutschaty, 48, muss eigentlich nicht fragen.
       Er ist Justizminister in Düsseldorf und SPD-Chef in Essen. In einer knappen
       Rede sagt er, dass sie, die Alten, das Land aufgebaut und die Jüngeren
       davon profitiert hätten. Dass er der Erste in seiner Familie war, der aufs
       Gymnasium gehen konnte. Das ist die sozialdemokratische Erzählung als
       Brühwürfel, vom Aufstieg durch Bildung, von Zusammenhalt und Solidarität.
       
       Nach seiner Rede geht Kutschaty durch die Reihen, schüttelt Hände von
       Senioren, die nach der Zukunft des nahe gelegenen Supermarkts fragen.
       
       Am Ende seiner Runde steht Dirk Busch, dem Kutschaty ein kurzes „Tach“
       zuwirft, mehr braucht man hier nicht zu sagen. Busch, kariertes Hemd,
       Schlüsselbund am Gürtel, ist hier der Chef – der AWO, aber auch der SPD im
       Stadtteil. Alles ehrenamtlich. Die SPD hat hier 147 Mitglieder, die AWO
       380. Früher war das Verhältnis eins zu eins. Wer AWO war, war SPD. „Den
       Automatismus gibt es nicht mehr“, sagt Busch. „Der Nachwuchs bei der AWO,
       das bin ich.“ Er ist 57 Jahre alt.
       
       Früher, in den glorreichen Zeiten der Ruhrgebiets-Sozialdemokratie, waren
       Mieterverein und Gewerkschaft, Stadtverwaltung und Partei, AWO und
       Fußballverein verschiedene Teile desselben sozialen Körpers. Arbeiter wie
       der Elektroinstallateur Busch stehen dafür noch heute. Wer Probleme mit
       Schule, Job, Wohnung hatte, ging zum Betriebsrat, der sowieso in der SPD
       war. Man kannte sich. Die Verwischung von Amt und Interessen war eine
       Nährlösung für den Filz, der über die Jahrzehnte immer dichter wurde.
       
       Kutschaty verabschiedet sich von Busch und den Senioren, er muss zum
       nächsten Wahlkampftermin. Seit einem Jahr ist er zusätzlich zum Ministerjob
       und dem Direktmandat auch SPD-Chef in Essen. „Das war kein Amt, nach dem
       ich mich gedrängt hatte“, sagt er. Kutschaty hatte keine Wahl. Die Essener
       SPD hat es sogar für Ruhrgebiets-Verhältnisse zu einer erstaunlichen
       Frequenz von Affären gebracht. Ein Parteichef musste nach Spendenskandal
       und Konkursverschleppung ins Gefängnis, eine Bundestagsabgeordnete gab 2016
       ihr Mandat zurück, weil sie ihren Lebenslauf um Abitur und Jurastudium
       bereichert hatte. Die letzte Oberbürgermeisterwahl gewann die CDU. Und nun
       Reil, der Abtrünnige, und die AfD.
       
       Die SPD hat in NRW noch 108.000 Mitglieder, im Jahr 2000 waren es fast
       doppelt so viele. Und sie ist eher männlich, alt und deutsch in Gegenden,
       die migrantisch und jung sind. Bei der AWO im Essener Norden ist sie noch
       die Heimatpartei. Aber sie schwächelt.
       
       In Essen lebt jeder fünfte von Geld vom Staat. Als Kutschaty vor Kurzem um
       neun Uhr morgens eine Kita besuchte, war die fast leer. Die Kinder kommen
       später, erklärten die Erzieherinnen, Hartz-IV-Familien halt. Die Essener
       SPD hat eine Sozialberatungsstelle eröffnet. Solche Hilfen für
       Hartz-IV-Empfänger bietet sonst die Linkspartei an, aus der SPD gibt es das
       nur in Essen. „Die Sozialberatung“, sagt Kutschaty, „ist der Versuch, eine
       Klientel zurückzugewinnen, die wir verloren haben.“
       
       Das ist schwierig. Denn die Hartz-IV-Klientel ist nicht empfänglich für die
       sozialdemokratische Erzählung vom Aufstieg durch Bildung, ist taub für die
       Lobreden von Schulz auf die hart arbeitenden Menschen. Wer Hartz IV
       bekommt, wählt öfter Protestparteien – wie die AfD.
       
       ***
       
       Ein Tag nach dem Besuch in der Kneipe, ein Samstagvormittag Anfang April.
       Die AfD hat auf den Marktplatz in Altenessen zum Wahlkampfauftakt geladen.
       „Wir rocken NRW“ steht auf der Einladung. Um kurz nach zehn fährt Guido
       Reil mit seinem blauen VW-Bus auf den Marktplatz. „Der Steiger kommt! Guido
       on Tour!“ steht auf dem Bus, daneben Reils Gesicht mit Helm und
       Grubenlampe, das Gesicht von Kohle geschwärzt. Das Foto ist gestellt, die
       Kohle hat Reil aus seinem Keller geholt, verrät er später.
       
       Als er aus dem Bulli springt, brandet Applaus auf. „Guido!“, ruft eine
       Frau. Reil trägt eine Daunenweste über dem karierten Hemd, die so knallblau
       ist wie das Logo seiner Partei. Er geht von Gruppe zu Gruppe, schüttelt
       Hände, klatscht auf Schultern.
       
       ## Was ihm auf der Seele brennt
       
       Die Partei gibt alles, um auf dem Platz, der von allen Seiten von
       Polizisten abgeschirmt wird, Nostalgie aufkommen zu lassen. Das
       Steigerlied, die Bergbauhymne, wird angestimmt und „Glück auf“ skandiert.
       Jörg Meuthen und Frauke Petry, die zerstrittenen Bundesvorsitzenden,
       bekommen Steigerlampen überreicht. Ruhrpottfolklore. Doch trotz der
       Prominenz bleibt der Marktplatz halb leer. Nicht einmal die Hälfte der
       angemeldeten tausend TeilnehmerInnen sind gekommen. „Das ist totaler Mist“,
       sagt Reil. „Wenn wir hier verkacken, dann überall.“
       
       Dann springt er auf die Bühne, spricht über Solidarität und Gerechtigkeit
       „die Werte der AWO“, wie er sagt. „Die AWO will mich rausschmeißen, weil
       ich anderer Meinung bin“, sagt er und läuft auf der Bühne auf und ab. „Für
       mich ist das Faschismus.“ Dann sagt er, dass sich die SPD nicht mehr um die
       kleinen Leute kümmere, sondern nur noch um die Posten der Funktionäre. Dass
       für die Flüchtlinge viel und für die Rentner wenig Geld da sei, dass
       Rot-Grün den Ruhrpott kaputt mache und wieder Industrie und Kraftwerke
       gebraucht würden. Reil redet schnell, in der Ruhrpottfärbung des Essener
       Nordens.
       
       Vor der Bühne steht Pawelzyk vor ihrem Freund, beide in Outdoorjacken, er
       hat die Arme um ihre Taille gelegt. „Das, was er immer sagt“, sagt
       Pawelczyk, während sie klatscht. Sie meint das anerkennend. Reil ist für
       sie einer, der sich nicht verbiegt, egal ob er auf dem Sofa sitzt, in der
       Kneipe oder auf einer Bühne auf dem Marktplatz steht. Ihr Freund nickt.
       „Guido ist halt authentisch“, sagt er.
       
       Mit diesem Image hat es Reil zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Gerade
       ist sein Buch „Wahrheit statt Ideologie. Was mir auf der Seele brennt“
       erschienen. Bei der AfD wird er bundesweit herumgereicht, er tritt in
       Talkshows auf. Vor wenigen Tagen wurde sein Auto demoliert, jemand hat in
       großen Lettern „Arbeiterverräter“ auf seine Garage gesprüht. Es ist eine
       Antwort auf ein Wahlplakat mit seinem Gesicht: „Vertritt die Interessen der
       kleinen Leute, anstatt sie zu verraten“.
       
       Die AfD stellt sich mit Reil als Arbeiterpartei dar. Doch die Rolle passt
       nicht recht zum Programm. Der Front National setzt in Frankreich
       sozialpopulistisch auf höhere Löhne und die Rente mit 60. Die AfD ist
       dagegen in vielem neoliberal, fordert mehr Markt und weniger Staat. Sie
       zielt auf Leute, die Angst haben, etwas zu verlieren, Leute wie Pawelczyk
       und ihren Freund. Sie ist Arzthelferin, er arbeitet als Techniker bei einer
       Wohnungsbaugesellschaft. Sie wohnen in einer Bergbausiedlung mit kleinen
       Häusern aus rotem Backstein, von denen es im Ruhrgebiet einige gibt. Das
       Haus gehört ihm, hinten ein Garten, vor dem Haus blüht eine Magnolie.
       Klingt idyllisch – aber wie lange noch?
       
       Pawelczyks Freund glaubt, dass es einen „großen Knall“ geben werde, das
       habe er in einem Buch aus dem rechten Kopp-Verlag gelesen, „Was Sie nicht
       wissen sollen“, heißt es. Manchmal träumen die beiden von einem Leben auf
       dem Land – weit weg von den Problemen im Essener Norden.
       
       „Guido Reil, wie tief bist du gesunken!“, brüllt ein kleiner, drahtiger
       Mann vom Rand des Marktplatzes. „Der missbraucht die Steigerhymne“, sagt
       der Mann leiser und stellt sich vor: Gerd Peter Wolf, 64, war in den 80er
       Jahren SPD-Landtagsabgeordneter. Sein Vater war Bergmann, er machte
       Karriere.
       
       ## „Ich will Gentrifizierung“
       
       Damals schloss die Zeche „Zollverein“, eine Kokerei und Schachtanlage so
       groß wie die Essener Innenstadt. Wolf setzte sich dafür ein, dass das
       Gelände nicht plattgemacht, sondern zum Denkmal wurde. Eine Million
       Besucher kommen jedes Jahr, „Zollverein“ ist Unesco-Welterbe. Demnächst
       öffnet dort eine Hochschule für Design. „Ich will Gentrifizierung“, sagt
       Wolf mit Lust an der Provokation. Er will den reichen Süden von Essen in
       den armen Norden holen.
       
       Das ist zwar kein Allheilmittel für den verarmten Norden, zeigt aber, dass
       etwas wachsen kann, wo die Industrie unterging. Reil dagegen schürt die
       Illusion, dass Bergbau und Schwerindustrie eine Zukunft haben. Dass alles
       wieder so wird, wie es früher war.
       
       ***
       
       Auch der SPD-Kandidat Kutschaty war auf dem Markt in Altenessen und hat
       sich seinen Konkurrenten Reil angeschaut, „als Zaungast“, wie er sagt.
       Heute steht Kutschaty selbst auf einem Marktplatz in Essen-Borbeck und
       verteilt am SPD-Infostand geduldig Kugelschreiber.
       
       Es ist Vormittag, an den Ständen werden Kartoffeln und vier Paar Socken für
       2,50 verkauft, vor allem an Rentner. Es geht gemütlich zu, kleinstädtisch
       und entspannt. „Grüßen Sie Ihren Vater“, sagt eine Dame mit Rollator zu
       Kutschaty. Hier ist er „der Thomas“, der zwischen den Wahlkampfterminen
       rasch nach Hause geht und für die Tochter Spargelsuppe kocht. Die
       Stimmungsmache der AfD gegen die abgehobenen Eliten perlt an ihm ab. Er ist
       in seinem Leben dreimal umgezogen. Immer in Essen, nie weiter als drei
       Kilometer. Ein Aufsteiger mit Bodenhaftung.
       
       Ein Mann mit Brille und Baseballcap strebt zielstrebig auf den
       Wahlkampfstand zu, gibt sich einen Ruck und fragt Kutschaty: „Was tun Sie
       gegen Ausländerkriminalität?“
       
       Kutschaty stutzt, sagt, „dass wir gegen jede Kriminalität vorgehen, egal ob
       von Deutschen oder von Ausländern“, dass es zehn Prozent mehr Staatsanwälte
       in NRW gebe, dass die Kriminalität in manchen Bereichen rückläufig sei. Der
       Mann unter der Baseballcap findet, dass es ein Unding sei, eine Million
       Ausländer ins Land zu lassen. Dass die Renten knapp seien. Dass die Bürger
       die Schnauze voll hätten.
       
       ## Bürgerwut und Politikerverachtung
       
       Kutschaty weist darauf hin, dass Flüchtlinge mit dem Rentenniveau nichts zu
       tun hätten. „Sind Sie auf der Straße schon mal bedroht worden?“, fragt er
       den Mann. Nun ja, sagt der, eigentlich nicht. Sie leben in einem der
       sichersten Länder, sagt Kutschaty, der eine Selbstsicherheit ausstrahlt,
       die ihr hässliches Geschwister, die Überheblichkeit, nicht braucht.
       
       „Das nehm ich mal so hin“, sagt der Mann und dreht sich grußlos auf dem
       Absatz um.
       
       Dieser Dialog ist in Zeiten von Bürgerwut und Politikerverachtung wohl
       geglückte Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten zu nennen.
       
       Kutschaty macht den Eindruck, dass er jedes Übel in handhabbare Teile
       zerlegen kann, die so lange analysiert werden, bis alles nicht mehr so
       schlimm zu sein scheint. „Es gibt keine Massenabwanderung von der SPD zur
       AfD im Essener Norden“, sagt Kutschaty. Alles übertrieben.
       
       Bei der Wahl vor fünf Jahren bekam Kutschaty 58 Prozent der Erststimmen,
       sieben Prozent mehr als die SPD Zweitstimmen erhielt. Dass Reil gegen ihn
       das Direktmandat gewinnt, wäre ein Wunder.
       
       Und dennoch: Reil hat es geschafft, in das angestammte Milieu der SPD
       einzudringen. In Essen-Karnap zeigt sich wie unter dem Mikroskop, was
       Rechte brauchen, um ihren Erfolg in Frankreich, Österreich oder den USA in
       Deutschland zu wiederhole n: Eine charismatische Person in einer
       strukturschwachen Region, die ein ängstliches Kleinbürgertum mobilisiert.
       Essen-Karnap zeigt aber auch, was den Erfolg von Rechtspopulisten
       verhindert und was Deutschland trotz allem von Ländern wie Frankreich
       unterscheidet: Eine Sozialdemokratie, die in der Bevölkerung verwurzelt
       ist.
       
       Die Rechtspopulisten, glaubt Kutschaty, seien auf dem absteigenden Ast.
       Weil es keine überfüllten Sporthallen mehr gibt, keine Kämpfe mehr gegen
       Flüchtlingszelte. „Oder sehen Sie hier auf dem Borbecker Markt
       Flüchtlinge?“, fragt er und schaut sich um.
       
       Es ist alles wieder normal. Das ist die Botschaft der SPD. Und ihre
       Hoffnung.
       
       10 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine am Orde
   DIR Stefan Reinecke
       
       ## TAGS
       
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