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       # taz.de -- Frankreichs Links- und Rechtspopulismus: Im Namen des Volkes
       
       > Ideologisch berühren sich die Extreme Mélenchon und Le Pen nicht. Aber
       > die von ihnen mobilisierten Gefühle überschneiden sich.
       
   IMG Bild: Für das Volk wollten im französischen Wahlkampf viele sein
       
       Mit [1][Marine Le Pens] Teilnahme an der Stichwahl am 7. Mai hat der
       Rechtspopulismus einen Sieg errungen. Sie hat die Wut der Zukurzgekommenen
       [2][mit Erfolg instrumentalisiert]. In deren Augen verkörpert sie – und
       nicht die Linksparteien – die Antwort auf Globalisierung, Krise und
       Machtlosigkeit. Das ist ein tragisches Missverständnis. Auf diesen
       Rechtspopulismus versucht Jean-Luc Mélenchon auf derselben Ebene zu
       antworten, um die Kritik der Oligarchie und der Eliten nicht der Demagogie
       der extremen Rechten zu überlassen. „Linkspopulismus“ gegen
       Rechtspopulismus, ist das die richtige Strategie?
       
       Natürlich hieß es im Verlauf der Wahlkampagne in Frankreich sofort: „Les
       extrêmes se touchent“ (Die Extreme berühren sich). Zwei Kandidaten, die
       doch eigentlich fast alles trennt, sind von Medien in denselben
       ideologischen Topf geworfen worden: die Rechtsextremistin Le Pen und
       [3][der Linke Mélenchon].
       
       Politisch ist das Unsinn, weil die Zielsetzungen der beiden grundlegend
       verschieden sind, doch lassen sich im Stil des Auftretens und in der
       Methode, sich vorab an verzweifelte oder enttäuschte Wähler zu wenden, doch
       auch Parallelen finden. In polemischer Übertreibung lässt sich behaupten,
       mit der „Frexit“-Drohung gegenüber Europa oder im Blick auf Putin oder
       Syrien hätten die beiden dieselbe Haltung.
       
       ## Nicht die Ideologien, aber die Wählerschaft überlappen
       
       Es ist nicht erstaunlich, dass eine beträchtliche Zahl von WählerInnen, die
       sich von den etablierten Parteien und den generell als korrupt betrachteten
       Politikern verraten fühlen, zwischen Le Pen und Mélenchon schwankten. Der
       Chef der „Unbeugsamen“ hat in der Schlussphase der Kampagne nicht nur
       Linkswähler des Sozialisten Benoît Hamon hinzugewonnen, sondern zweifellos
       auch den Wahlanteil der FN-Chefin geschmälert.
       
       Das wäre aus linker Sicht ja zu begrüßen. Vor der Stichwahl am 7. Mai
       spielen angeblich rund 20 Prozent der Mélenchon-Wähler mit den Gedanken,
       für Le Pen zu stimmen. Die Extreme berühren sich nicht ideologisch, aber
       die Wählerschaft kann sich teilweise überschneiden.
       
       Ausgehend von der Feststellung, das Volk sei weitgehend manipuliert und von
       den Entscheidungen ausgeschlossen, erhebt der Populismus den Anspruch auf
       eine radikale oder direkte Demokratie: „Au nom du Peuple“ stand auf den
       Plakaten von Marine Le Pen vor dem ersten Wahlgang. Sie fordert so
       Legitimität und den Anspruch der Repräsentation. „Im Namen des Volks“
       werden aber Gerichtsurteile gefällt.
       
       Diese Anspielung ist nicht zufällig, denn mit der Eroberung der Macht
       möchte die Kandidatin des rechtsextremen Front National (FN) ihr „Jüngstes
       Gericht“ halten und alle Verantwortlichen, die sie zu Volksfeinden
       erklärten, zum Teufel jagen. In ihrer Bewegung findet so ausgerechnet der
       Slogan des Arabischen Frühlings, „Dégagez!“ (Haut ab!), ein Echo. Dieser
       Ruf befriedigt in Le Pens Demagogie revanchistische Ressentiments gegen die
       wirtschaftlich, kulturell und politisch Herrschenden.
       
       ## „Haut ab, haut ab!“
       
       In ihrem emotionalen Kern enthält diese politisch instrumentalisierte Wut
       ein unberechenbares Gewaltpotenzial. Denn dieser populistische Volksbegriff
       ist meist nicht nur nationalistisch oder sogar rassistisch, er ist [4][vor
       allem ausgrenzend]. Für Marine Le Pen sollen die Immigranten und alles, was
       sie ihnen (wie namentlich den Islam) an kulturellen, religiösen und
       sozialen Störfaktoren anlasten möchte, draußen bleiben.
       
       Ohnmachtsgefühle mobilisiert auch Mélenchon gegen die etablierte Ordnung.
       In seinen spektakulären Auftritten vor Tausenden und manchmal Zehntausenden
       fordert er den demokratischen Umsturz mittels Wahlen, aber auch
       Rechenschaft.
       
       Seine Zuhörer rufen „Dégagez, dégagez!“ wie die Demonstranten in Tunesien,
       die den Diktator Ben Ali stürzten. Wenn Mélenchon explizit die
       „Sansculotten“ der Revolution von 1789 als sein Vorbild nennt, denkt man
       unweigerlich an die Guillotine. Das lenkt von den reellen
       Herrschaftsmitteln und somit der eigentlichen Machtfrage auf einen mehr
       empfundenen als analysierten Antagonismus des Volks gegen die Elite oder
       „Ihr da oben, wir da unten“.
       
       Was ist das Gemeinsame der von Mélenchon und Le Pen angesprochenen
       Emotionen? Es sind Gefühle der Ohnmacht, der Wut, der Angst. Es ist aber
       auch eine Konfrontation des Irrationalen gegen die eine Rationalität, die
       als Herrschaftsinstrument einer arroganten Kaste diskreditiert wird.
       
       ## Teilhabe als linker Mythos
       
       Nochmals zum „Volk“, das laut Mélenchon die Macht zurückerobern muss und
       das „mit seiner Kraft alle Hindernisse überwinden kann“: Der Kandidat
       ersetzt hier das marxistische Konzept der klassenbewussten Proletarier als
       revolutionäres Subjekt durch einen Mythos: Die sozialen und
       wirtschaftlichen Interessengegensätze werden reduziert auf die Teilhabe an
       der Macht oder den Ausschluss von der Macht.
       
       Von der Konvergenz der Widerstandsbewegungen (Arbeiterbewegung, Feminismus,
       Antimilitarismus, Umweltbewegungen . . .), welche die belgische Philosophin
       Chantal Mouffe in ihrer Befürwortung des „linken Populismus“ zur
       „Neuformulierung des sozialistischen Ideals als Radikalisierung der
       Demokratie“ bezeichnet, ist in Mélenchons Vorstellung einer Sechsten
       Republik wenig zu finden. Die vorhandenen basisdemokratischen Aspekte
       seiner Bewegung der „Unbeugsamen“, die an Podemos oder an die besten
       Momente von Nuit debout erinnern können, werden zudem durch die geradezu
       peinlichen Chef-Allüren des Kandidaten verfälscht.
       
       Wie Mouffe meint Mélenchon schließlich, dass die nationale Identität
       zwangsläufig den Rahmen zur Verteidigung des Volks gegen die Globalisierung
       bildet. Er ist ein nationalstaatlicher Reformer, sein Patriotismus ist
       nicht bloß eine rhetorische Floskel. Die soziale Kritik an der
       Globalisierung aber kann nicht in einem protektionistischen Rückzug auf die
       nationale Dimension bestehen. Sie muss angesichts der globalen
       Interdependenzen internationalistisch und auch proeuropäisch sein. „Ein
       Programm, das auf dem Verzicht des europäischen Projekts beruht, ist dazu
       verdammt, im Chauvinismus oder gar Trumpismus zu enden“, hat der Philosoph
       Etienne Balibar dazu seiner Freundin Mouffe und dem Politiker Mélenchon zu
       bedenken gegeben.
       
       29 Apr 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Portraet-der-Familie-Le-Pen/!5399200
   DIR [2] /Marine-Le-Pens-Wahlkampf-Agenda/!5377991
   DIR [3] /Wahlkampf-in-Frankreich/!5401295
   DIR [4] /Front-National-im-Wahlkampf/!5401231
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Balmer
       
       ## TAGS
       
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