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       # taz.de -- Nancy Fraser über Populismus: „Eine neue, linke Erzählung bieten“
       
       > Die Politikwissenschaftlerin und Feministin Nancy Fraser über
       > Identitätspolitik, soziale Gerechtigkeit und neue linke
       > Anti-Trump-Koalitionen.
       
   IMG Bild: „Der Widerstand gegen Trump ist stark“, so Fraser. Im Bild: Demo annlässlich des 100. Amtstags des US-Präsidenten in Chicago
       
       taz: Frau Fraser, was hat die Linke falsch gemacht? Hat sie sich zu sehr
       auf Emanzipationspolitik konzentriert und zu wenig auf die soziale Frage,
       „zu viel Rosa, zu wenig Rot“, wie es aus Teilen der Linkspartei hieß? 
       
       Nancy Fraser: Ja und nein. Das Problem ist nicht der Kampf für Feminismus,
       LGBTQ-Rechte und gegen Rassismus, sondern die Trennung dieses Kampfs vom
       Kampf für soziale Gerechtigkeit.
       
       Sie nennen das „progressiven Neoliberalismus“ . . . 
       
       Genau. In den Vereinigten Staaten verbinden sich seit etwa drei Jahrzehnten
       die neoliberalen Kräfte mit den progressiven Kräften und ihr Einstehen für
       Emanzipation und Vielfalt. Diese liehen dem Neoliberalismus ihr
       progressives Charisma. Für diesen Bund stehen vor allem die Clintons, die
       die US-Wirtschaft Goldman Sachs überantworteten und die neoliberale
       Globalisierung rücksichtslos beförderten.
       
       Was wurde aus den klassischen sozialen Bewegungen, den Gewerkschaften und
       Industriearbeiter*innen? 
       
       Die Gewerkschaften wurden mehr oder weniger zerstört, der sogenannte
       Rostgürtel wurde sich selbst überlassen: Einst eine Bastion der
       Sozialdemokratie, verhilft er heute Trump zu Mehrheiten. Clintons Politik
       und die seiner Nachfolger verschlechterte das Leben der Mehrheit, vor allem
       aber der Industriearbeiter*innen. Dieser Angriff erfolgte unter der
       „geliehenen“ progressiven Fassade.
       
       Das macht aber das Einstehen für Emanzipation und Vielfalt nicht falsch. 
       
       Nein, im Gegenteil. Fatal ist aber dessen Bund mit dem Neoliberalismus: In
       dieser Zeit herrschte ein Dauerdiskurs über Vielfalt und Empowerment. An
       die Stelle einer antihierarchischen, klassenbewussten und egalitären
       Auffassung von Emanzipation trat eine linksliberal-individualistische. Eine
       „Winner-takes-it-all“-Hierarchie wurde befördert, um einigen „besonders
       talentierten“ Frauen oder Lesben und Schwulen ihren Aufstieg zu
       ermöglichen. Gleichzeitig muss die Mehrheit ihr Leben im Keller verbringen.
       
       Der „progressive Neoliberalismus“ tat also progressiv, beförderte aber
       tatsächlich die Abwertung ganzer Heere von Menschen? 
       
       Und das spielte dem reaktionären Populismus Trumps in die Hände. Er
       präsentierte eine scheinbare Alternative. Endlich stand jemand auf der
       Seite der Abgehängten. Und mit dem Ausscheiden von Sanders blieb nur die
       Wahl zwischen dem progressiven Neoliberalismus Clintons und dem
       reaktionären Populismus Trumps. Eine unmögliche Wahl.
       
       Gilt das alles auch für Deutschland? Mit Gerhard Schröder wurden ebenfalls
       massiv soziale Rechte abgebaut und die Sozialdemokratie entstellt. 
       
       In den USA ist das Ganze besonders deutlich. Auch in Frankreich sehen wir
       mit der Wahl zwischen Le Pen und Macron eine Wahl zwischen progressivem
       Neoliberalismus und reaktionärem Populismus. In Deutschland gilt das wohl
       auch, aber abgeschwächt. 
       
       Was können wir tun? 
       
       Wir müssen eine neue, linke Erzählung bieten. Eine ernsthaft egalitäre
       soziale Bewegung sollte sich mit der verlassenen Arbeiterklasse verbünden.
       Sie muss erklären, warum beides zusammengehört. Ich selbst engagiere mich
       für einen Feminismus der 99 Prozent. Damit stehen wir im erklärten
       Gegensatz zu „Glasdeckenfeminismus“: Wir kämpfen sowohl für die (weiblichen
       und männlichen) Arbeitenden als auch für Migranten und die, die sich
       unbezahlt an Care Work aufreiben. Das kann nur zusammen erkämpft werden,
       wie es der progressive Populismus von Bernie Sanders macht.
       
       Ob das Konzept der 99 Prozent so sinnvoll ist? Es sind nicht alle Reichen
       böse und alle Armen gut. Zu den 99 Prozent gehören auch Rassisten. Und das
       Problem liegt ja nicht nur im Fehlverhalten der Eliten. 
       
       Sie haben recht, die Sache mit den 99 Prozent ist nicht das letzte Wort.
       Ich bevorzuge selbst die Klassenpolitik. Der Unterschied zwischen dem
       progressiven Populismus von Sanders und dem reaktionären Populismus Trumps
       ist allerdings, dass Sanders keine Sündenböcke konstruiert. Trump gibt
       Mexikanern und Muslimen die Schuld. Er spricht echte Missstände an, folgt
       aber einer völlig falschen Analyse. Sanders verbindet den Kampf für soziale
       Gerechtigkeit mit dem Kampf für Minderheitenrechte. Das funktioniert
       erstaunlich gut. Auch „die Reichen“ stellt er nicht per se als schlecht
       dar, sondern er greift strukturelle Ursachen auf und zu Recht diejenigen
       an, die die Wirtschaftspolitik zu ihrem Vorteil manipulieren.
       
       Aber wie soll man Leute ins Boot holen, die reaktionären Positionen
       anhängen? Das sind nicht Mitstreiter, sondern Gegner. 
       
       Vielleicht hilft eine genauere Analyse: Trumps Wähler*innen bestehen aus
       etwa drei Blöcken. Die meisten wählen traditionell Republikaner. Die haben
       ihn gewählt, aber dabei oft die Nase zugehalten. Dann gibt es die
       „Alt-Right“-Leute, Rechtsextreme, die meiner Ansicht nach nur einen kleinen
       Teil seiner Wählerschaft ausmachen. Zum dritten Teil gehören unter anderem
       ehemalige Gewerkschaftsmitglieder. Bei denen finden wir nicht die eindeutig
       rassistischen Ressentiments, auch wenn sie teils dazu neigen. Diese Leute
       sind erreichbar.
       
       Wir sollten also reden? 
       
       Wir sollten nicht prinzipiell davon ausgehen, dass die alle Rassisten sind.
       Damit würde die Linke ihr sicheres Versagen vorantreiben. Die wir erreichen
       wollen, erreichen wir nur auf der Grundlage von Respekt. Die Linke muss
       zeigen, dass sie ein Narrativ zu bieten hat, das die angesprochenen
       Kümmernisse erfasst und ausdrückt.
       
       Sie scheinen zuversichtlich. 
       
       Ich bin weder optimistisch noch pessimistisch. Heute ist vieles möglich.
       Die Hegemonie ist erschüttert, ein wenig wie in den 60er Jahren. Der
       Widerstand gegen Trump ist stark. Das zeigt eine Anekdote: Trump sollte
       traditionellerweise beim Eröffnungsspiel der Major Baseball League den
       ersten Ball werfen. Ihm wurde aber davon abgeraten, da wahrscheinlich war,
       dass er ausgebuht würde.
       
       Es bilden sich gerade beeindruckende linke Koalitionen. Menschen aller
       Altersklassen politisieren sich. Mit einem progressiven Populismus, wie ihn
       Sanders betreibt, können sie erreicht werden. Zu dieser neuen Linken
       gehören aber eben auch Kurskorrekturen, hin zu einer solidarischen Linken.
       Diese kämpft um soziale Gerechtigkeit und für Emanzipation und Vielfalt.
       
       2 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Houssam Hamade
       
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