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       # taz.de -- „Atlas der Angst“ im Thalia Theater: Große fragende Augen
       
       > Die Bühnenfassung des „Atlas der Angst“ folgt einer Reportagereise durch
       > ein bitteres Deutschland. Vergeblich sucht man einen Fokus.
       
   IMG Bild: Froh sein über die Angst vor dem dunklen Wald: der Spessart im Herzen Deutschlands
       
       „Warum reproduzieren wir eigentlich dieses Weltuntergangszenario?“, fragt
       Julian Greis unvermittelt. „Warum machen wir einen Theaterabend über den
       ,Atlas der Angst'? Warum mit schauriger Musik, gedämpften Stimmen,
       betroffenen Blicken? Warum machen wir nicht einfach ein Theaterstück über
       den ,Atlas der Zuversicht‘?“
       
       Eine gute halbe Stunde hat man sich da im Thalia Theater in Hamburg schon
       bittere Geschichten angehört. Geschichten aus einem Deutschland der
       Gegenwart. Und ganz egal, ob im friesischen Ostrhauderfehn, in Dresden,
       Berlin oder in Weiden in der Oberpfalz: Überall in Deutschland regiert die
       Angst.
       
       Das zumindest ist der Tenor eines Buchs, das Armin Smailovic und Dirk
       Gieselmann erarbeitet haben, nach einer dreimonatigen Reise im Sommer und
       Herbst 2016. Kreuz und quer durchs Land sind sie gefahren. Ein Land mit
       644.000 Kilometern Straße, mit Neubausiedlungen, Altstädten genauso wie
       Industriegebieten. Ein Land, das „eng ist und weit, voll und einsam, reich
       und arm, emsig und müde“. Ein vielschichtiges Land, könnte man einfach
       sagen.
       
       Doch diese Reise, in der ein Fotograf und ein Autor sich auf den Weg
       gemacht haben, Deutschland neu zu vermessen, stand vor allem unter dem
       Vorzeichen der Angst. Der German Angst eines Landes, das – so
       diagnostiziert Dirk Gieselmann – „in einem weichen Bett liegt und
       Fieberträume hat“.
       
       ## Nicht alles muss auf die Bühne
       
       Das ZEIT Magazin zeigte exklusiv Auszüge, bevor die Publikation Mitte März
       im Eichborn Verlag erschien. Nun bemüht sich das Thalia Theater auf seiner
       Spielstätte in der Gaußstraße um eine Uraufführung: mit drei Schauspielern,
       zwei Dutzend Statisten und in der Regie von Gernot Grünewald. Doch, es sei
       vorweg gesagt, es gibt Bücher, die müssen nicht auf die Bühne gebracht
       werden. „Atlas der Angst“ ist ganz bestimmt so ein Buch.
       
       Gernot Grünewald aber – Aufsehen erregte 2016 sein Projekt „ankommen“, das
       er mit unbegleiteten Flüchtlingen am Thalia Theater zeigte – schreckt
       offenbar vor nichts zurück: Er wählt aus den insgesamt 100 Kurzreportagen
       einige aus und lässt sie von seinen drei Protagonisten nachspielen oder
       -erzählen. Marie Jung, Dejan Bućin und eingangs erwähnter Julian Greis sind
       also mal das Rentnerpaar Gerdi und Heinz, mal ein suizidaler 15-jähriger
       Somalier und mal ein Hamburger Waffenhändler. Manchmal nehmen sie diese
       Personen als Spielvorlage, mal beschreiben sie deren Fühlen und Handeln –
       meist mit geneigten Köpfen und großen fragenden Augen.
       
       Mal kommt der Text auch aus dem Off, als O-Ton jener Recherchereise. Der
       Statistenchor sorgt für alles andere Erwartbare: Er geht hektisch auf und
       ab, starrt böse oder raunt extra bedrohlich „Deutschland den Deutschen,
       Ausländer raus.“ Natürlich werden Bilder projiziert und auch mal Filme.
       Schwarzweiß und von Armin Smailovic, seines Zeichens renommierter und
       prägnanter Porträt- und Reportagefotograf sowie Hausfotograf des Thalia
       Theaters.
       
       Mehrmals an diesem sehr betulich geratenen Abend fragt man sich nach dem
       Warum. Vergeblich sucht man einen Fokus. Noch vergeblicher einen originären
       Gedanken. Die Geschichten, die erzählt werden, sind allzu vertraut. Es sind
       Klischees aus dem Osten der Republik, präzise erzählte Erfahrungsberichte
       nah an Anschlägen und völlig unbestimmte, umso menschlichere Beschreibungen
       einer allgemeinen Unsicherheit.
       
       ## Grenze zum Betroffenheitstheater
       
       Im Laufe des Abends entfaltet Gernot Grünewald ein sehr breites, schier
       wahlloses Portfolio, das allzu häufig die Grenze zum Betroffenheitstheater
       überschreitet. Ironische Brechungen meidet der Regisseur – vermutlich aus
       Angst (vor der Political Incorrectness). Froh ist man um die Momente, in
       denen die Schauspieler es mit Privatheit versuchen. Wenn sie von ihren
       irrationalen (Kindheits)Ängsten erzählen, fern von Terrorbedrohung oder
       Hausfriedensbruch. Wenn sie sich an den unheimlichen Schlumpf Gargamel
       erinnern, an ihre Angst vor den Bundesjugendspielen oder die vor dunklen
       Wäldern.
       
       Angst, so differenzieren Neurowissenschaftler, meint – im Gegensatz zur
       Furcht – ein diffuses Gefühl, etwas Unbestimmtes. Vielleicht ist das der
       Stolperstein: dass Gernot Grünewald krampfhaft versucht, in einem
       Theaterabend etwas so Diffuses zu konkretisieren.
       
       24 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Ullmann
       
       ## TAGS
       
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