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       # taz.de -- Lehrstellenmarkt Berlin: Azubis sind wie weggeputzt
       
       > Händeringend suchen viele Berliner Betriebe nach Nachwuchs. Tausende
       > Ausbildungsplätze bleiben jedes Jahr unbesetzt. Auch Bewerber ohne
       > Schulabschluss haben Chancen.
       
   IMG Bild: Auch die Bäckerbranche sucht Auszubildende
       
       Über Jahrzehnte bildete sein kleines Familienunternehmen in Mitte aus. Doch
       seit drei Jahren findet Geschäftsführer Klaus Schülzky einfach niemanden
       mehr. Die Ausbildungsstelle zum Großhandelskaufmann ist unbesetzt – trotz
       Übernahmegarantie bei guter Eignung. „Wenn das so weitergeht, dann wird es
       existenzbedrohend“, sagt Schülzky, „dann überaltern wir“.
       
       Schülzkys Unternehmen ist gut im Geschäft, die Auftragsbücher sind voll.
       Mit 15 Angestellten verkauft er spezielle Schläuche an die
       Lebensmittelindustrie. Der Job ist anspruchsvoll, der Chef ist es auch.
       Gute Mathe- und Deutschkenntnisse sollen Bewerber haben. Onlineanzeigen hat
       er geschaltet, sich auf Ausbildungsmessen um Nachwuchs bemüht. „Aber es
       gibt einfach zu wenige gute junge Leute und zu viele offene Stellen.“
       Gerade kleine Unternehmen wie seines – ohne bekannte Namen und mit
       speziellem Betätigungsfeld – hätten das Nachsehen.
       
       So wie Schülzky geht es Hunderten Berliner Ausbildungsbetrieben. Zwar
       steigt seit Jahren die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze.
       Rekordverdächtig ist allerdings auch die Zahl der unbesetzt bleibenden
       Stellen. Im aktuellen Ausbildungsjahr sind bislang nicht einmal die Hälfte
       der gemeldeten Stellen besetzt. 2016 waren mit Ausbildungsbeginn mehr als
       5.000 von 14.800 angebotenen Stellen frei. Im Klartext heißt das, dass
       viele Unternehmen auf selbst ausgebildeten Nachwuchs verzichten müssen –
       Fachkräftemangel ist die Folge.
       
       Es wäre allzu leicht, diese Entwicklung allein auf den demografischen
       Wandel zu schieben. Zwar haben 2015 tatsächlich 20 Prozent weniger
       SchülerInnen die Schule mit einem Abschluss verlassen als noch acht Jahre
       zuvor. Aber noch immer gibt es mehr BewerberInnen als Ausbildungsplätze in
       Berlin.
       
       Das Problem ist also nicht nur die Menge. Tatsächlich ist der Anteil der
       Abgänger ohne Schulabschluss in den vergangenen zehn Jahren ebenso
       gestiegen wie der Anteil der Absolventen mit Hochschulreife. Erstere
       genügen häufig den Ansprüchen der Unternehmen nicht. Letztere wollen vor
       allem eines: Studieren. 2015 haben erstmals mehr Jugendliche ein Studium
       angefangen als eine Ausbildung. Seitdem steige die Zahl der Studienanfänger
       so rasant wie die der Ausbildungsanfänger sinke, weiß man bei der
       Industrie- und Handelskammer (IHK). Auf dem Ausbildungsmarkt habe sich
       inzwischen eine Zeitenwende vollzogen, sagt Marion Haß, Geschäftsführerin
       für Wirtschaft und Politik bei der IHK Berlin. „Die Unternehmen sind heute
       diejenigen, die sich bei den Jugendlichen bewerben müssen.“
       
       Davon bleiben auch große und bekannte Unternehmen nicht verschont. 65
       Lehrstellen bietet das 5-Sterne-Hotel Interkontinental in Tiergarten an:
       als Hotelfachleute, KöchInnen, KonditorInnen, Restaurant- oder
       Veranstaltungsfachleute. Früher ging das ganz ohne Werbung. „Inzwischen
       haben wir unsere Anzeigen permanent geschaltet, präsentieren uns auf
       Messen, lassen unsere Qualität prüfen, binden die Bestandauszubildenden
       ein“, sagt Personaldirektor Christian Siejock. Der Konkurrenzkampf um
       potenzielle Azubis ist groß. Nicht wenige Betriebe legten den BewerberInnen
       direkt nach dem Erstgespräch den fertigen Vertrag vor, manche bieten sogar
       Prämien bei Vertragsabschluss an.
       
       Während die einen also mehr oder minder erfolgreich versuchen, die guten
       KandidatInnen abzubekommen, stellen andere deutlich weniger Ansprüche. Und
       gehen dennoch leer aus. Die Gebäudereinigerbranche gehört zu denen, die es
       am härtesten trifft.
       
       „Dabei geben wir wirklich jedem eine Chance“, sagt Tanja Čujić-Koch,
       Sprecherin der Gebäudereinigerinnung und Inhaberin eines
       Familienunternehmens mit 180 MitarbeiterInnen. Zehn Ausbildungsplätze hat
       sie üblicherweise zu vergeben. Besetzt ist aktuell gerade mal einer. „Wir
       leiden unter unserem schlechten Image“, sagt Čujić-Koch. Dabei zahle die
       Branche einen vergleichsweise hohen Tariflohn und biete gute
       Aufstiegschancen. BewerberInnen müssten nur motiviert sein. Noten oder
       Deutschkenntnisse spielten keine Rolle. Selbst ein Schulabschluss sei
       inzwischen keine Bedingung mehr. Auch Čujić-Koch bewirbt sich mit ihrem
       Unternehmen bei Jugendlichen – in Schulen, auf Berufsmessen, in den
       sozialen Netzwerken. „Doch das fruchtet alles nicht.“
       
       Dabei suchen zumindest laut Statistik aktuell noch fast 9.000 BerlinerInnen
       einen Ausbildungsplatz. Bis zum 30. September haben BewerberInnen und
       Unternehmen noch Zeit, zueinander zu finden.
       
       4 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manuela Heim
       
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