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       # taz.de -- Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Aufmerksamkeitsschaben
       
       > Tanzen für Geflüchtete, konzentriertes Zuhören und die Suche nach dem
       > Jetzt: Unterwegs im Berliner Nacht- und Tagleben.
       
   IMG Bild: Aufmerksames Zuhören will gelernt sein. Hier übt der Blackfoot-Häuptling „Mountain Chief“ mit der Ethnologin Frances Densmore und einem Zylinder-Phonographen (1916)
       
       Das Leben steht und fällt mit Deterritorialisierung. Ob in der U-Bahn, über
       Kontinente hinweg oder in der Musik. Am Freitag kommt es um 9.37 Uhr zur
       ersten Grenzüberschreitung des Tages. Ein Mann, hastig auf seinem
       morgendlichen Kreuzweg, läuft in die zum Lesen aufgefaltete Zeitung.
       
       Darin: Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne betrug 2000 zwölf
       Sekunden, heute sind es noch neun. In der Politik siegt das Kurzfristige
       wieder gegen das Langfristige: Dass schon bald das Eis der Arktis
       geschmolzen sein wird, interessiert niemanden, aber alle stürzen sich auf
       eine Frau, die das Land, in dem sie zufällig lebt, Grüße an de Mazière, vom
       „Fremden befreien“ möchte.
       
       Ohne das, was sie das Fremde nennt, wäre der Wedding luftleerer Raum. Kein
       Zufall also, dass hier, in einem Hinterhof das „Disappearance Refugee
       Benefit“-Konzert des Labels „Ausschuss“ stattfindet, dessen Einnahmen
       lokalen Flüchtlingsorganisationen zukommt.
       
       Auch hier, in der ruinösen Fabrikhalle passiert ständig
       Deterritorialisierung, durch die sich ein Gebiet erst erschließt, wie bei
       den Pantern, die ihren Lebensraum nur zum Jagen verlassen. Lauernd stehen
       alle herum, als die tunesische DJ Cera Khin dem wundervoll queeren
       Publikum abstrakten Dancehall und Breakbeats zum Fraß vorwirft – mit einer
       solchen Chuzpe, dass alle, bis auf einen grazilen jungen Mann, der es allen
       vormacht, ganz erstarrt sind vor Hüftsteifheit.
       
       ## Nie ankommen, immer im Jetzt sein
       
       Später wird Laurel Halo das Eis brechen, indem sie wabernde Bässe und
       düstere Drones mit lebensbejahenden Funk mischt. Und ein müde wirkender
       Yves Tumor, der als Prince des Internetzeitalters gilt, verlässt die
       vernebelte Bühne mit wie aus dem Nichts dahin gemeinten Worten „Fuck the
       police“.
       
       Im Café am Samstag simulieren, untermalt von stoischer Muzak, zwei auf ihre
       Handys starrende Kinder erwachsene Menschen, die an der Bar sitzen und auf
       ihre Handys starren. Sollten sie nicht, statt ihr von schnellen Reizen
       perforiertes Selbst zu bestätigen, eigentlich draußen sein, um im Dialog
       mit der sogenannten Wirklichkeit eigene Subjektivitäten auszubilden?
       
       Was würden die Besucher der Bar in Neukölln sagen, die plötzlich
       aufspringen, um auf blechigen Postpunk zu tanzen? Vermutlich nichts, ihr
       Verhalten ist ohnehin suspekt, eine Kopie der Vergangenheit, als hätte
       ihnen die Gegenwart nichts zu sagen. Dabei muss sie doch ständig neu
       erfunden werden. Nie ankommen, nie herumstehen, immer unterwegs sein.
       
       ## Vorschlaghammer-Techno
       
       So wie Charlie und Lina, die ihr mobiles Sound-„System Out“ im Urban Spree
       für ein geniales Line-up aufgebaut haben: Silvia Kastel, DJ Richard, Wilted
       Woman und Ondo Fudd. Charlie habe in London genug Geld verdient, um sich
       einen Sportwagen zu kaufen. Das hat er lieber in ein Soundsystem
       investiert, sagt, nein, schreit sie, um sich gegen die martialische Wall Of
       Sound durchzusetzen. Weil die Lautstärke selbst seichten House in
       Vorschlaghammer-Techno verwandelt, bleibt nur: Angriff oder Flucht.
       
       Am frühen Morgen lügt ein blauer Himmel vor sich hin, in der Bahn die
       tauben Küsse eines Paares, das sich, der verzagten Frequenz ihrer
       Zuneigungsgesten nach zu urteilen, eben erst kennengelernt hat. So wie die
       Duos, die auf dem „Syn/Cussion Festival“ aufeinandertreffen.
       
       Am Sonntag wird dort die Behauptung mit den neun Sekunden Aufmerksamkeit
       entkräftet. Im ausverkauften Radialsystem lauschen alle hoch konzentriert
       den Improvisationen des Free-Jazz-Drummers Paul Lovens und Thomas Lehn am
       analogen Synthesizer. Erst als Lovens sein bekanntes Gebiet verlässt und
       Lehns entrückt-clownesken Sound mit nervösem Schaben und Kratzen auf seinen
       Trommeln beantwortet, entsteht ein Dialog. Einer, der Widersprüche zulässt,
       statt sie einzuebnen.
       
       8 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Philipp Rhensius
       
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