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       # taz.de -- Debatte Martin-Schulz-Effekt: Jetzt bloß keine Panik
       
       > Die Niederlage in Schleswig-Holstein muss keine Trendwende für die SPD im
       > Bund sein. Sie muss nur das Richtige daraus lernen.
       
   IMG Bild: Torsten Albig und Martin Schulz (rechts) nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein
       
       Ist es der kühne Traum, dass es in der Bundesrepublik eine Regierung links
       von der Union geben könnte, schon zu Ende? Gibt es wieder eine
       Bundestagswahl, in der es nur darum geht, mit wem Merkel regieren wird?
       
       Die Landtagswahl in Schleswig-Holstein war nur eine in einem kleinen
       Bundesland. Martin Schulz kann auch nichts dafür, dass der (wohl bald)
       Ex-Ministerpräsident Torsten Albig sich in einem Interview über seine
       gescheiterte Ehe ausgelassen hat. Das war, zwei Wochen vor der Wahl, keine
       so blendende Idee.
       
       Die SPD-Sprachregelung, dass Kiel eine hausgemachte Niederlage war, ist
       nicht falsch. Aber das hilft nichts. Ob Albigs Ehe oder die Schulpolitik
       zwischen Flensburg und Pinneberg der SPD das Genick brach, ist nicht so
       wichtig. Denn wahrgenommen wird, dass das sozialdemokratische
       Erwartungsmanagement, von wundersamer Wiederauferstehung und neuem
       Selbstbewusstsein, kollabiert ist.
       
       Die Flitterwochen zwischen Schulz und der Öffentlichkeit sind endgültig
       vorbei. Jetzt beginnt der Realitätstest. Die Frage lautet, ob die SPD kühl
       und weitsichtig die Konsequenzen aus diesem Flop zieht. Oder ob sie so
       voreilig agiert wie nach der Saarland-Wahl.
       
       ## Merkel wird als Beruhigung empfunden
       
       Nach der Saar-Wahl ging die SPD im Bund auf Anti-Linkspartei-Kurs. Das war
       nahe liegend, weil die Aussicht auf Rot-Rot an der Saar die Union stark
       gemacht und die eigenen Anhänger gespalten hatte. Doch das Saarland auf den
       Bund zu projizieren, war eine Kurzschlusshandlung. Wenn die SPD klug ist,
       hält sie sich alle drei denkbaren Koalitionen offen – Rot-Rot-Grün, Ampel,
       Große Koalition.
       
       Zu Rot-Rot-Grün können die Sozialdemokraten eine recht wetterfeste Haltung
       einnehmen: ja, wenn es eine stabile Mehrheit gibt und ohne außenpolitische
       Abenteuer. Daran muss man nicht im Wochentakt herumschrauben. Schulz’
       Kontrahentin ist nicht Sahra Wagenknecht, sondern Angela Merkel. Und die
       ist, für die SPD, viel gefährlicher.
       
       Noch vor Kurzem herrschte der Eindruck, dass nicht nur das Publikum
       Merkel-müde ist, sondern auch die Kanzlerin nur aus Pflicht weiterregiert.
       Das ist mittlerweile überblendet und verdrängt worden von etwas Größerem,
       das alle Mattigkeit zur Geschmacksfrage verkleinert: dem Gefühl, dass die
       Welt, von USA bis Syrien, aus den Fugen gerät. Deshalb wird Merkel, trotz
       allen Überdrusses, als Beruhigung empfunden. Die Kanzlerin macht
       Weltpolitik, Schulz erklärt händeringend Wahlniederlagen.
       
       Doch es geht nicht nur um Merkels Image. Der Union ist es, machtkalt, wie
       es hierzulande nur Konservative können, gelungen, den Zwist um die
       Flüchtlinge zwischen dem liberalen CDU-Flügel und Seehofer stillzulegen.
       Was die Union vor Kurzem noch innerlich lähmte, steht nun auf der
       Habenseite.
       
       ## Union light spielen ist falsch
       
       Die Union inszeniert nun ein Doppelspiel: Merkel, die Flüchtlingskanzlerin
       in memoriam, bindet urbane, liberale Klientel, während de Maizière und
       Spahn Konservative und Islamskeptiker mit Leitkultur-Debatten bei Laune
       halten. Wie schon im Saarland hat die Union auch in Schleswig-Holstein mehr
       als die Konkurrenz Nichtwähler mobilisiert. Die diffuse Politisierung kommt
       nicht den Rechtspopulisten, nicht Schulz, sondern der Union zugute.
       
       Die SPD ist in einer kniffligen Lage. Eine beunruhigende Zahl aus Kiel
       lautet: 57 Prozent der SPD-Wähler in Schleswig-Holstein glauben, dass es in
       Deutschland gerecht zugehe. Ist Gerechtigkeit das falsche Thema, die
       Schulz-Kampagne ein Irrläufer? Muss ein Reißschwenk her – weg von der
       Agenda-Korrektur, hin zu Wirtschaftskompetenz? Das klingt naheliegend. Aber
       jetzt Union light zu spielen ist falsch. Nach den Fantasien der ersten
       Schulz-Phase sich jetzt klein zu machen wird den Schaden noch vergrößern.
       Die Sozialdemokratie, die nach Niederlagen oft in den Modus aggressiven
       Beleidigtseins fällt, kann habituell viel von Merkel lernen. Etwa, dass in
       Krisen Gelassenheit hilft, keine hektisch entworfene neue Strategie.
       
       Und es gibt drei zentrale Felder, die allesamt wichtiger sind als virtuelle
       Koalitionsdebatten: Gerechtigkeit, Europa, Sicherheit. Gerechtigkeit hat
       die Schulz-SPD bislang stimmig intoniert. Sie adressiert die arbeitende
       Mitte, nicht Hartz-IV-Empfänger und Abgehängte. Das ist moralisch
       fragwürdig, strategisch aber einleuchtend. Denn in der SPD-Kernklientel
       haben Hartz-IV-Empfänger keinen guten Ruf. Zudem bleibt so Raum für die
       Linkspartei.
       
       Umfragen zeigen, dass die Deutschen die Gesellschaft 2017 als gerechter
       empfinden als früher, obwohl die Kluft zwischen arm und reich tiefer
       geworden ist. Solche Stimmungen sind schwankend, volatil. Was jetzt
       eindeutig scheint, kann in drei Monaten anders sein. Es wäre mehr als
       kurzsichtig, wenn die SPD Umverteilung nun auf den Müll werfen würde. Die
       Sozialdemokraten müssen für die von Abstiegsängsten Geplagten und die
       zufriedene Mitte mehr anbieten als die Union – bei Strafe des Untergangs.
       
       ## Die SPD braucht mehr Otto Schily
       
       Zweitens eröffnet die Wahl von Emmanuel Macron ungeahnte Chancen. Das
       Tandem Merkel/Schäuble steht in der Europäischen Union für Verwalten und
       Sparen. Die Sozialdemokraten müssen dies endlich mit einer kühnen Vision
       kontern. Denn Deutschland muss mehr für Europa tun – und auch mehr zahlen.
       Natürlich sind Geld und Brüssel riskante Themen für den Wahlkampf.
       
       Aber wer, wenn nicht der EU-erfahrene Schulz und der derzeit solide
       wirkende Außenminister Gabriel sollen dem hiesigen Publikum diese Botschaft
       übermitteln? Und wann, wenn nicht jetzt? Denn dass Macron nicht die Lösung
       der Krise, sondern eher die letzte Chance für die EU ist, dürfte sich
       langsam herumsprechen.
       
       Zudem muss sich die SPD angesichts der Law-and-Order-Union bei der inneren
       Sicherheit immunisieren. Sie braucht mehr Otto Schily, also jemand, der in
       Sachen Kriminalität glaubhaft markige Sätze von sich geben kann. Sonst ist
       die Gefahr groß, dass die Doppelstrategie der Union auch in der
       SPD-Klientel attraktiv wirkt.
       
       Sozialpolitisch links, in Europa postnational, bei der inneren Sicherheit
       eher rechts. So könnte es gehen. Verloren ist das Spiel nur, wenn die SPD
       mal wieder glaubt, dass sie nur die Anpassung an die Union rettet.
       
       9 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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