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       # taz.de -- Auszeichnung für Herbert Fritsch: Wie vor dem Todessprung
       
       > Der Regisseur Herbert Fritsch, Zeremonienmeister des Komischen, erhielt
       > den Theaterpreis Berlin. Castorf redete, Abschied lag im Raum.
       
   IMG Bild: Herbert Fritsch (li) und der Berliner Kultursenator Klaus Lederer.
       
       „Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist
       alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ Das hat Peter Brook gesagt.
       Der Satz ist längst zum Sprichwort geworden.
       
       Ein Dutzend Puppen purzelt, schlittert, fliegt, grätscht, tanzt, stolpert
       über die Bühne und ein ganzer Zuschauerraum bepullert sich vor Lachen. Das
       ist es, was passiert, wenn Herbert Fritsch Regietheater macht. Am Sonntag
       hat er dafür den Theaterpreis Berlin 2017 der Stiftung Preußische
       Seehandlung bekommen, der jedes Jahr während des Theatertreffens überreicht
       wird.
       
       Frank Castorf hielt keine Laudatio, behauptete er zumindest. Vielmehr
       erzählte der scheidende Godfather der Berliner Volksbühne, wie Fritsch und
       er sich kennen und (ja!) lieben lernten. Castorf erzählt von Fritschs
       vorherigem Leben als Schauspieler, seinem Körperspiel, seiner
       Selbstentblößung auf der Bühne, der Selbstaufopferung.
       
       ## Scham und Mitleid in Reihe zwei
       
       Ich erinnere mich an den Schauspieler Herbert Fritsch als den, der
       stundenlange virtuose Monologe halten und damit eine ohnehin schon
       fünfstündige Castorf-Inszenierung gerne noch mal um ein erhebliches
       verlängern konnte; als den, der in einem Stück von Christoph Schlingensief
       (War es „Atta Atta“?) knöcheltief in einem Kinderplanschbecken auf der
       Bühne stand, und wie er dann plötzlich die Hose seines Zweiteilers fallen
       ließ und unten ohne dastand. Er habe den Christoph gefragt, was er denn
       hier machen solle, der Christoph habe gesagt, wenn ihm – Fritsch – nichts
       mehr einfalle, könne er ja einfach die Hose runterlassen.
       
       Ich war Anfang zwanzig damals, saß in der zweiten Reihe und kam vor
       Mitleid, Scham und Faszination fast um.
       
       2007 verließ Fritsch die Volksbühne als Schauspieler, um 2011 als Regisseur
       zurückzukehren. „Die (s)panische Fliege“ war eine Erschütterung, eine
       Enthemmung des Theaters. Und zwar nicht auf schmerzhafte Weise, sondern als
       Komödie.
       
       Die Komödie ist der Ursprung des Theaters. Das Komische, das Nichtrichtige,
       Nichternstgemeinte, der Nonsens ist der Inbegriff des Spiels. Wir tun jetzt
       mal so, als ob, heißt die Vereinbarung zwischen Schauspielern und
       Zuschauern und dann führen die einen was vor und die anderen gucken zu und
       dürfen klatschen oder lachen. So geht die Rollenverteilung.
       
       ## Der Zuschauer macht die Komödie
       
       Die körperlichen Reaktionen der Zuschauer im Schatten vor der Bühne sind
       dabei ebenso wichtig wie die körperlichen Aktionen der Schauspieler im
       Licht obendrauf. Das Lachen macht Stimmung, beeinflusst den Rhythmus des
       Spiels. Wenn keiner lacht, ist es keine Komödie. Einen Witz erzähle ich mir
       ja auch nicht alleine zu Hause vor dem Spiegel. Dem Komischen ist die
       Sendung immanent. Es braucht einen Empfänger.
       
       „Wo ist eigentlich Michael Müller?“, fragte Frank Castorf, denn angekündigt
       war, dass der Berliner Bürgermeister den Preis überreicht. Aber Müller, der
       als Kultursenator die Entscheidung für den kommenden Intendanten Chris
       Dercon und das Ende der Ära Castorf mitgetragen hat, kam nicht. Stattdessen
       der Kultursenator Klaus Lederer, erklärter Liebhaber der Castorf-Bühne, der
       eine sehr schöne Rede über Fritsch hielt. Der Abschied, die Wehmut hing
       zwar im Raum, aber niemand wollte sie für eine kulturpolitische Abrechnung
       nutzen.
       
       Herbert Fritsch hat das Komische in seiner ursprünglichen Form auf die
       große Bühne zurückgebracht. Natürliche, physische und physikalische Grenzen
       werden aufgehoben durch die von Fritsch selbst entworfenen Bühnenbilder und
       Lichtspiele. Die Schauspieler werden in den knallbunten Kostümen und Masken
       von Victoria Behr von jeder Peinlichkeit befreit. Hier wird kein
       Schauspieler entblößt, sie werden alle verwandelt. Gestandene Männer werden
       zu zarten Prinzessinnen, Greise zu Riesenbabys, die Gesten überlebensgroß,
       die Mimik grotesk.
       
       ## Von der Angst und vom Lachen
       
       In seiner Dankesrede am Sonntag erzählt Fritsch, wie er in Belgrad war bei
       einem Gastspiel, der Kosovokrieg war gerade vorbei. Sei vorsichtig in
       Belgrad, hatte man ihm gesagt, dort haben sogar die Taxifahrer Pistolen und
       wenn du nicht aufpasst, entführen sie dich in eine dunkle Ecke und schießen
       dich tot. Fritsch hatte wahnsinnige Angst, erzählt er.
       
       Und dann kam er da an im Theater und überall standen riesige Männer mit
       schmalen Krawatten in der Gegend rum und guckten böse. Fritsch hatte
       wahnsinnig Angst vor denen. Er wusste nicht, was er sonst machen sollte,
       sagt er. Wie schon so oft. Doch diesmal ließ er nicht die Hosen runter wie
       bei Schlingensief, sondern nahm sich vor, seine Angst nicht zu zeigen,
       sondern den Männern am nächsten Tag mit einem Grinsen zu begegnen, die
       Angst zu überspielen.
       
       Und genau das tat er. „Dann hab ich tief Luft geholt, bin zum Theater
       hingegangen, hab die Tür aufgerissen und gegrinst. Und plötzlich grinsten
       die auch alle! Die fingen zu lachen an und kamen auf mich zu und es war
       plötzlich diese unglaubliche Offenheit da. Und da hab ich das erste Mal
       begriffen, was Spielen heißt. Selbst wenn es der größte Krampf ist, allein,
       die Anstrengung zu sehen, dass man was anderes will, dass man woanders hin
       will, selbst wenn es in dem Moment gar nicht stimmt, dass einem gar nicht
       zum Lachen zumute ist, aber selbst wenn man nur zeigt, ich möchte es gerne
       so, das ist, glaube ich, was im Kern Theater ausmacht.“
       
       Spielen sei ein Kraftakt, sagt Fritsch, und jedes Mal eine Überwindung wie
       vor einem Todessprung.
       
       Lieber Herr Fritsch, bitte machen Sie noch lange weiter!
       
       9 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea Streisand
       
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