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       # taz.de -- Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Eben rief meine Mutter an
       
       > Manchmal ist das Leben ein einziges Theater. Auf dem Spielplan unserer
       > Autorin: Handwerker, Martin Wuttke und der Tod eines 92-Jährigen.
       
   IMG Bild: Hier brennt derzeit die Luft – auch mal aufgrund eines glühenden Kohlehaufens
       
       Nachdem Chris Dercon, der umstrittene Castorf-Nachfolger, diese Woche seine
       neue Programmatik an der Volksbühne vorstellte, ein Blick auf meinen
       derzeitigen Spielplan.
       
       Erster Akt: Wir ziehen um. Unsere neue Wohnung liegt im Dachgeschoss eines
       Weddinger Altbaus direkt am Nordufer, hat eine kleine Dachterrasse und
       schräge Wände. Gegenüber wohnt Peer Steinbrück. Wenn er da ist, soll man
       morgens manchmal seine rot-weiß gestreiften Unterhosen sehen können,
       erzählen die Vormieter. Aber das ist spätestens seit Martin Schulz’
       Barttracht egal.
       
       Nicht egal ist mir – zweiter Akt mit steigender Handlung – eine Entdeckung,
       die ich im Zuge der Schönheitsreparaturen, die derzeit noch in unserer
       zukünftigen Wohnung vorgenommen werden, gemacht habe: Ich habe einen Schlag
       bei Handwerkern.
       
       Rückblickend hätte ich das schon bei der Wohnungsbesichtigung mit Herrn
       Pfänder bemerken können. Als ich ihn auf den blau angelaufenen
       Holzfensterrahmen in der Küche ansprach, vermittelte er mir ganz ohne
       Diskussion einen Tischler. Da sein Rat, die mit Wasserstein angelaufene
       Duschvorrichtung mit Salmiak zu reinigen, bei mir auf offene Ohren stieß,
       fing er an zu schnurren und überlegte, ob er nicht eine Flasche vorrätig
       habe, die er mir geben könnte. Was folgte, war ein nettes Telefonat mit
       Herrn Kalender, dem Fliesenleger, der den in die Jahre gekommenen
       Terrassenboden neu verlegt. Als ich ihn nach der Farbe der neuen Fliesen
       fragte, whatsappte er mir am nächsten Tag nicht nur sämtliche
       Fliesenmuster, Herr Kalender bot auch an, im Baumarkt einen Fliesenrabatt
       für mich auszuhandeln.
       
       ## Die Augen des Martin Wuttke
       
       Szenenwechsel. Bei der schrillen Feier zur Veröffentlichung des Bildbandes
       mit Volksbühnen-Fotos von William Minke, der auch das „Toni
       Erdmann“-Filmplakat fotografiert hat, schaute mir Tatort-Kommissar und
       Volksbühnen-Größe Martin Wuttke tief in die Augen, während er einen
       vertraulichen Gruß formulierte. Klimax! Ich nickte, die Dabeistehenden
       raunten etwas von „taz-Kontakten“. Draußen vor der Volksbühne war an dem
       Abend ein glühender Kohlehaufen zu sehen, den zwei Krakeeler direkt auf den
       Berliner Pflastersteinen entzündet hatten. Theater eben.
       
       Meine persönliche Komödie erlebte ich am vergangenen Samstag, als ich mich
       spontan auf den Weg nach Brandenburg aufmachte, weil ich mich – Wendung in
       der Handlung – nach blühendem Flieder und grünen Wiesen sehnte.
       
       Mit kam „Wanna cry“, der größte Hackerangriff der Geschichte: Der legte die
       Anzeigentafeln, Ticketautomaten und Züge der Deutschen Bahn derart lahm,
       dass ich den Weg nach Bad Saarow nur in kurzen Etappen bewältigen konnte.
       Zuerst vom Hauptbahnhof nach Ostkreuz, dann von Ostkreuz nach Erkner, von
       Erkner nach Fürstenwalde (Spree) und von Fürstenwalde (Spree) nach Bad
       Saarow. Das war so anstrengend und die Landschaft am Scharmützelsee so
       schön, dass ich beschoss, eine Nacht zu bleiben.
       
       ## Schlussakt am Steilufer
       
       Ich wurde nicht enttäuscht, die Provinzposse – fallende Handlung – spielte:
       Im einzigen Restaurant am Platze war um 20.30 Uhr Küchenschluss, im
       Whirlpool erzählt mir eine Rentnerin in aller Ausführlichkeit, wie sie im
       Urlaub gestürzt war, am See feierten Mittsechziger bei Pionierliedern einen
       Geburtstag und die floralen armfüllenden Tattoos der Brandenburger
       Kellnerinnen waren beeindruckend anzusehen.
       
       Apropros Provinz, Schlussakt: Eben rief meine Mutter an und erzählte mir
       von einem gemeinsamen Bekannten, der zu Hause auf Rügen bei einem
       Steiluferabbruch ums Leben gekommen war. Der 92-Jährige, der auf einer
       Landzunge im allerletzten Haus direkt vor dem Meer gewohnt hatte und dort
       einen Weltkrieg, den Sozialismus, die Wiedervereinigung und die
       globalisierte Welt erlebt und überlebt hatte, wollte einfach nur wissen,
       wie die Baggerarbeiten nach dem letzten Steilküstenabbruch vorankamen.
       Vielleicht wollte er auch nach den Uferschwalben im Steilufer sehen. Obwohl
       die Arbeiter ihn am Vortag auf die Gefahr der abbrechenden Küste
       hingewiesen hatten, ging er wieder ans Ufer, ignorierte auch das
       Absperrband. Die Natur lockte stärker.
       
       Was für ein Abgang.
       
       21 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Boek
       
       ## TAGS
       
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