URI: 
       # taz.de -- Homophobie in Tschetschenien: Moskau hält die Füße still
       
       > Das LGBT-Netzwerk in Moskau versucht Homosexuelle aus Tschetschenien
       > herauszuholen. Die werden dort in Geheimknästen gefoltert.
       
   IMG Bild: Proteste gegen die Diskriminierung Homosexueller in Russland, nahe der russischen Botschaft Mitte April in Rom
       
       Moskau taz | „Erste Berichte über Entführungen und Morde an homosexuellen
       Männern in Tschetschenien erhielten wir Ende März“, sagt Swetlana Sacharowa
       vom LGBT-Network in Moskau. Russlands Politik ließ sich jedoch mehrere
       Wochen Zeit bis sie reagierte.
       
       Seit einem Monat versucht das Network, Homosexuelle aus der
       Kaukasusrepublik herauszuholen. „Aus Sicherheitsgründen wird mit den
       Hilfesuchenden jeder Fall vorab genau besprochen“, sagt Swetlana.
       Patentlösungen gebe es nicht. Immer mehr Betroffene hätten sich in den
       letzten Wochen gemeldet.
       
       „Sobald die ersten in Sicherheit waren, kamen neue Anfragen über die
       Hotline“. Das Vertrauen sei gewachsen. „Wer uns vorher schrieb, wusste
       nicht, ob er nicht in eine Falle geht“, sagt Swetlana. Manche hätten die
       LGBT-Aktivisten vor einem Treffen gebeten, ihnen hoch und heilig zu
       versprechen, ihnen keine Gewalt anzutun.
       
       „Russland ist ein homophobes Land“, meint Swetlana. Dennoch hätte es
       niemals vorher eine vergleichbare Hatz auf Schwule gegeben. Auch die
       Network-Mitarbeiter seien davon überrascht worden. Den grausamen
       Erzählungen der Geretteten zuzuhören, sei selbst für erfahrene Aktivisten
       psychisch sehr belastend.
       
       ## Höhere Opferzahlen
       
       Folterungen und Festnahmen scheinen unterdessen weiter zu gehen. Zumindest
       liegen dem Network bislang keine gegenteiligen Informationen vor. Zunächst
       war in Berichten der Nowaja Gaseta von mindestens hundert Gefangenen und
       drei Toten die Rede.
       
       Inzwischen scheint das wahre Ausmaß noch bedrückender zu sein. Nicht nur
       die Opferzahlen dürften höher liegen. Es verdichten sich auch Beweise, dass
       Homosexuelle nicht wie vorher angenommen an zwei, sondern mindestens sechs
       Orten der Nordkaukasusrepublik in Geheimgefängnissen systematisch
       missbraucht werden.
       
       Der Kreml bestellte in der vorvergangenen Woche Republikchef Ramsan Kadyrow
       ein. Vor Putin und laufender Kamera klagte Moskaus Statthalter aus Grosny
       über „provokante“ und unwahre Nachrichten über die Kaukasusrepublik.
       
       Die Übergriffe auf Homosexuelle nannte er unterdessen nicht beim Namen. Die
       vormodern-patriarchalische Gesellschaft wertet bereits die Verbalisierung
       nicht-heterosexueller Orientierung als moralischen Verstoß.
       
       ## Keine Straftaten
       
       Die Botschaft des Kreml war klar: Moskau hält zu Kadyrow und wird den
       Anschuldigungen der Homopogrome auch nicht nachgehen. Putins Pressesprecher
       Dmitri Peskow und die Kreml-Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa
       verwiesen zur Klärung auf den juristischen Weg. Leidtragende sollten
       zunächst in Grosny Anzeige erstatten.
       
       Die Menschenrechtsbeauftragte teilte unterdessen mit, Anfragen bei den
       tschetschenischen Behörden hätten ergeben, dass keine Straftaten vorlägen.
       Somit ist alles in Ordnung. Daraus spricht blanker Zynismus. Eine Anzeige
       käme einer Selbstauslieferung gleich.
       
       Moskau will eine Auseinandersetzung mit dem Sultan von Grosny vermeiden.
       Ein neuer Konflikt im Kaukasus birgt für Russland unwägbare Risiken.
       Bislang beruhte die Männerfreundschaft zwischen Putin und Kadyrow auf der
       Abmachung: der Tschetschene sorgt in Grosny für Ruhe und Stabilität, im
       Gegenzug verzeiht ihm der Kremlchef auch noch die letzten Schweinereien.
       Das funktionierte lange Zeit reibungslos.
       
       Mittlerweile taucht der aus Tschetschenien verdrängte Terrorismus wieder in
       der Republik auf. Seit Dezember verändert sich die Lage. Terror und
       Angriffe von Aufständischen hätten in den ersten vier Monaten dieses Jahres
       bereits die Zahl des Vorjahres übertroffen, meldet das Portal „kawkaskij
       usel“ (Kaukasischer Knoten).
       
       ## Bedrohung in Tschetschenien
       
       Erst im März wurden zwei Soldaten der russischen Nationalgarde in
       Tschetschenien getötet. Putin sprach den Fall an, er schien beunruhigt zu
       sein. Klar gäbe es eine Bedrohung in Tschetschenien, meinte der Kremlchef
       mit Nachdruck. Kadyrow hatte das zuvor verneint und sich als
       unangefochtener Herr der Dinge in Tschetschenien präsentiert.
       
       Der Kaukasusexperte und Chefredakteur des kawkaskij usel, Grigorij
       Schwedow, hält die Verfolgung Homosexueller denn auch für die Folge einer
       größer angelegten Säuberungswelle in der Kaukasusrepublik. Auf der Jagd
       nach Gegnern hätten Kadyrows Leute wie üblich die Handys der Festgenommenen
       durchsucht und seien auf pornographische Fotos gestoßen.
       
       Putin stört, dass der Fall vor allem international Proteste hervorruft,
       während die Lage in der Republik mit jedem Tag instabiler wird. Angeblich
       stünde schon die nachrückende Generation bereit, die sich für ihre Väter,
       Kadyrows politische Opfer, rächen wolle.
       
       Auch die Wirtschaftskrise erreicht jetzt die bislang hochsubventionierte
       Region. Der Kreml kann sich des Statthalters jedoch nicht einfach
       entledigen. Unabhängig davon, ob Kadyrow das Sicherheitsgelübde einlöst
       oder nicht.
       
       1 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
       ## TAGS
       
   DIR Russland
   DIR Wladimir Putin
   DIR Ramsan Kadyrow
   DIR Tschetschenien
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
   DIR Tschetschenien
   DIR Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
   DIR Russland
   DIR Homosexuelle
   DIR Russland
   DIR Zeugen Jehovas
   DIR Russland
   DIR Sexualität
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR LGBT-Protest in Russland: 30 Aktivisten festgenommen
       
       In St. Petersburg werden 30 Aktivisten festgenommen. Ihre Kundgebung war
       verboten worden, da sie die Gesundheit von Kindern gefährden könnte.
       
   DIR Zahlen des Innenministeriums: LGBTI häufiger Opfer von Übergriffen
       
       Behörden registrieren im ersten Halbjahr 130 Straftaten gegen Homo-, Bi-,
       Inter- und Transsexuelle – das sind mehr als 2016. Volker Beck hatte die
       Zahlen angefragt.
       
   DIR Blogger über homophobe Tschetschenen: „Es fehlt an schneller Hilfe“
       
       Der Westen sei zwar über die Hetze in Tschetschenien empört gewesen. Doch
       das reiche nicht, sagt der Blogger Felix Gljukman.
       
   DIR Urteil gegen Homo-Propaganda-Gesetz: Russland muss zahlen
       
       Drei Aktivisten hatten gegen das russische Verbot sogenannter
       Schwulen-Propaganda unter Jugendlichen geklagt. Der Europäische Gerichtshof
       gibt ihnen Recht.
       
   DIR Justiz in Russland: Doch nicht ins Arbeitslager
       
       Ein Blogger wird zu dreieinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Er hatte
       in einer Kirche mit seinem Smartphone „Pokémon Go“ gespielt.
       
   DIR Kommentar Minderheiten in Russland: Die Hölle der Namenlosen
       
       Homosexuelle werden in Russland gejagt, in Tschetschenien gefoltert. Die EU
       muss das Schutzbedürfnis dieser Gruppe ernster nehmen.
       
   DIR Deutsch-russische Diplomatie: Kein Kuss mehr zur Begrüßung
       
       Merkel ist für Russland die wichtigste Ansprechpartnerin in der EU, sagt
       der Deutschlandexperte Wladislaw Below. Eine Beziehungskrise sieht er
       nicht.
       
   DIR Repressionen in Russland: Keine Zeugen mehr
       
       Russland hat die Zeugen Jehovas als „extremistische Organisation“
       eingestuft. Absurd, denn die Sekte lehnt den Wehrdienst konsequent ab.
       
   DIR Journalist stirbt nach Überfall: Ermittlungen in Petersburg
       
       Anfang März wurde der Journalist Andruschtschenko überfallen und
       niedergeschlagen. Jetzt ist der 73-jährige seinen Verletzungen erlegen.
       
   DIR Festnahmen in Tschetschenien: Schwule? Bei uns nicht!
       
       In der muslimisch geprägten russischen Teilrepublik lässt Präsident Kadyrow
       über 100 schwule Männer verhaften. Das hat Tradition.