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       # taz.de -- Buch über Europas Zukunft: Eine neue Republik
       
       > Vom gleichen Wahlrecht zum gleichen Recht auf soziale Sicherheit: Die
       > Politologin Ulrike Guérot beschreibt einen Weg zur Republik Europa.
       
   IMG Bild: Teilnehmende der Pulse of Europe-Veranstaltung am 2. April in Berlin
       
       Eine stürmische Idee – gleiches Wahlrecht für alle EuropäerInnen! Dafür
       plädiert Politikprofessorin Ulrike Guérot in ihrem Buch „Der neue
       Bürgerkrieg“. Wie bitte, haben wir das nicht schon? Nein. Gerade deshalb
       soll diese so einfache und einleuchtende Parole zum programmatischen Kern,
       zum Katalysator der neuen europäischen Einigung werden, fordert Guérot.
       
       Jedem wahlberechtigten Europäer eine Stimme, pro eine Million Stimmen ein
       Abgeordneter im Europaparlament – so soll das Wahlrecht von Tallinn bis zur
       Algarve, von Thessaloniki bis Dublin künftig aussehen. Als historisches
       Vorbild führt Guérot die revolutionäre Bewegung des Vormärz Mitte des 19.
       Jahrhunderts an, die die Demokratie erkämpfte. In diesem Sinne ist der
       Titel-Begriff „Bürgerkrieg“ zu verstehen. Wie damals um den Nationalstaat
       finde heute ein Kampf um Europa statt. Es ist eine „Auseinandersetzung über
       die Verfasstheit von Staat und Gesellschaft“ zwischen Demokraten und
       Rechtspopulisten.
       
       Guérot, die an der Universität von Krems und der School of Governance in
       Berlin forscht und lehrt, sprach unlängst bei einer der Pulse of
       Europe-Kundgebungen in Frankfurt/Main. Die Wahlrecht-Forderung ist auch auf
       diese neuen proeuropäischen Demonstrationen gemünzt. Aber kann dieser
       Slogan die Kraft eines geistigen Leitsterns entwickeln?
       
       Nach dem Prinzip „ein/e Bürger/in, eine Stimme“ würde sich die
       Sitzverteilung im Europäischen Parlament verändern. Denn heute werden
       kleine Staaten gegenüber großen bevorzugt, Estland beispielsweise entsendet
       mehr Abgeordnete im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl als Deutschland.
       Infolge des Gleichheitsprinzips entfielen auf Deutschland künftig etwa 16
       Prozent der Parlamentarier, nicht 13 Prozent wie gegenwärtig. Auch Italien
       und Frankreich profitierten. Malta und Estland dagegen müssten sich mit
       jeweils einem Parlamentarier begnügen, während sie heute sechs schicken.
       Warum sollten die BürgerInnen kleiner EU-Staaten dieser Beschränkung ihres
       Einflusses via Wahlrecht zustimmen?
       
       ## Unmittelbar attraktiv und mitreißend
       
       Die Antwort der Autorin lautet: weil Europa damit zur Republik würde. Diese
       Staatsform hält sie für unmittelbar attraktiv und mitreißend. Denn wer
       gleiches Wahlrecht fordert, kann dies nicht tun, ohne allgemeine
       Rechtsgleichheit, damit auch soziale Gleichheit und Gerechtigkeit
       anzuerkennen. Die Befürworter des neuen Wahlrechts beantworten Marine Le
       Pens Frage: „Wer kümmert sich um die Armen, wenn es die Nation nicht mehr
       gibt?“ auf neue Art: Europa wird ein transnationaler Sozialstaat.
       
       Das in diesem Sinne neu gewählte und beauftragte Parlament kann die
       europäische Arbeitslosenversicherung einführen. Jeder Erwerbslose, ob in
       Deutschland, Griechenland, Spanien oder Litauen, erhält zum Beispiel 200
       Euro aus europäischen Kassen zusätzlich. Diesem Schritt misst Guérot eine
       ähnlich epochale Bedeutung zu wie der Einführung der Sozialversicherung
       durch Bismarck. Guérot betrachtet das Wahlrecht als einen Katalysator in
       einem sozialen Experiment, das gigantische Energie freisetzt. Das Wahlrecht
       dient ihr als Rammbock, der das Tor in die Zukunft aufstößt.
       
       Ist das nun das unrealistische Theoriekonstrukt einer Politikprofessorin,
       die die Vorteile der Nationalstaaten unter- und die Bindungskraft eines
       europäischen Superstaates überschätzt, wie etwa der Soziologe Wolfgang
       Streeck argumentiert?
       
       Vielleicht mag gerade die sozialstaatliche Vision der europäischen Republik
       die Bürger der kleinen und mittleren Staaten dazu bringen, ihren formalen
       Einflussverlust zu akzeptieren. Denn in einem republikanischen
       Europaparlament, das selbst volle Rechte besitzt, die EU-Regierung wählt
       und nicht der Herrschaft des heutigen EU-Rats der Nationalregierungen
       untersteht, könnte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble seine harte
       Sparpolitik gegenüber Griechenland nicht mehr durchsetzen.
       
       Und warum sollten die deutschen Pulse of Europe-Demonstranten so etwas
       unterstützen? Vielleicht aus Empathie mit den Bürgern der Nachbarstaaten
       und aus aufgeklärtem Eigeninteresse. In der europäischen Republik hätte
       Deutschland dann zwar weniger zu sagen, und die Sozialpolitik wäre teurer
       als heute, aber selbst lebte man ebenfalls besser, wenn es beispielsweise
       eine zusätzliche Versicherung gegen Erwerbslosigkeit gäbe. Aufschlussreich
       wäre es, unter den Pulse of Europe-Leute eine Umfrage zu veranstalten: Seid
       ihr damit einverstanden, dass Deutschland zugunsten der Republik Europa
       zurücktritt? Und würdet ihr euch das ein paar Milliarden Euro pro Jahr
       kosten lassen?
       
       16 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hannes Koch
       
       ## TAGS
       
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