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       # taz.de -- Die SPD nach der NRW-Wahl: In der Gerechtigkeitsfalle
       
       > Nach der NRW-Wahl hat die SPD eine Gratwanderung vor sich: Zu wenig
       > Gerechtigkeit vergrault Stammwähler, zu viel vertreibt Wechselwähler.
       
   IMG Bild: Verzweiflung macht sich breit: Sigmar Gabriel, Martin Schulz und Manuela Schwesig nach der Wahl
       
       Berlin taz | Am Tag danach ist Fehlersuche angesagt: Hat Martin Schulz zu
       wolkig von Gerechtigkeit schwadroniert? War alles nur hausgemacht in NRW?
       Muss man jetzt im Bund nur nachjustieren – oder alles komplett
       überarbeiten?
       
       Diese Wahl war „total bitter“, sagt Karl Lauterbach,
       SPD-Bundestagsabgeordneter aus Köln. Man habe einfach kein Mittel gegen die
       Kampagne der Union auf den letzten Metern gefunden. Die CDU habe
       suggeriert, dass „die Leute im Stau stehen, während rumänische Banden ihre
       Wohnungen leer räumen“. Da half auch der Verweis nichts, dass Rot-Grün doch
       mehr Polizisten eingestellt hatte. „Die Union hatte Bilder, wir hatten
       Statistiken“, so Lauterbach.
       
       Das Bekenntnis, dass diese Niederlage in Düsseldorf anzusiedeln ist, dass
       es um Landes- und nicht um Bundespolitik ging, wird bei der SPD am Montag
       im Chor vorgetragen. Der Schaden soll lokal begrenzt und Martin Schulz aus
       der Schusslinie gehalten werden. Soweit das geht. In der Tat hatte die SPD
       in NRW auf Landespolitik gesetzt. Am Montag danach halten dies natürlich
       alle für einen Fehler. Allerdings fragt sich, ob ein paar Programmreden von
       Martin Schulz viel geholfen hätten.
       
       Im Kern steht die SPD-Spitze nun vor drei verzwickten Aufgaben, die neu
       dekliniert werden müssen: Gerechtigkeit, Merkel, innere Sicherheit.
       
       Die NRW-Wahl hat gezeigt, dass sich die SPD mit dem Gerechtigkeitswahlkampf
       auf schmalem Grat bewegt – mit Absturzgefahr zu beiden Seiten. 66 Prozent
       der SPD-WählerInnen entschieden sich am Sonntag wegen sozialer
       Gerechtigkeit für die Partei. Nur in diesem Punkt galt die SPD beim
       gesamten Publikum als kompetenter als die CDU. Und Gerechtigkeit ist nicht
       nur für die Kernklientel das identitätsstiftende Thema.
       
       Manche SPD-Linke glauben, dass Schulz das Thema zu vage und defensiv
       intonierte. Nur die Verlängerung des Arbeitslosengeldes verkünden und
       Kanzler werden wollen, das reiche nicht, so die Kritik. Das klingt
       schlüssig: 74 Prozent der Wähler in NRW bekundeten, dass sie eigentlich
       nicht wissen, was die SPD mit sozialer Gerechtigkeit konkret meint.
       
       ## Heikle Operation: Gerechtigkeit
       
       Allerdings zeigt die NRW-Wahl auch etwas, das irritierend schräg zu diesem
       Bild steht. Fast eine halbe Million SPD-WählerInnen wechselten zu CDU und
       FDP. Das ist gerade kein Zeichen, dass man Gerechtigkeit nur präziser und
       lautstärker hätte proklamieren müssen. Eine bundesweite ARD-Umfrage im März
       zeigte zudem, das jeder zweite Deutsche glaubt, dass es hierzulande gerecht
       zugeht – so viele wie nie zuvor (und trotz wachsender Kluft zwischen Reich
       und Arm).
       
       Ein Gerechtigkeitswahlkampf ist daher eine heikle Operation. Zu wenig
       deprimiert die Stamm-, zu viel vertreibt Wechselwähler.
       
       Zweitens: Wie schon im Saarland und in Schleswig-Holstein wenden sich
       Nichtwähler stärker der Union als der SPD zu. Es gibt ein diffuses Gefühl
       von Bedrohung, das Angela Merkel zugutekommt. Fast 60 Prozent haben in NRW
       wegen der Kanzlerin CDU gewählt. Die SPD-Erzählung, dass man nur wegen
       Schulpolitik, innerer Sicherheit und schwindender Popularität von Hannelore
       Kraft verloren habe, steht daher auf dürren Beinen. Merkel gilt als
       Stabilitätsversprechen in unsicherer Zeit. Damit kehrt der Albtraum aller
       SPD-Strategen wieder: das Bild der unangreifbaren Kanzlerin, an der alles
       abperlt. Zumal Martin Schulz, ohne Amt, der Kanzlerin nicht auf Augenhöhe
       begegnen kann.
       
       Und drittens: innere Sicherheit. Montagvormittag. Die SPD-Spitze ist
       versammelt im Willy-Brandt-Haus angetreten. Man will Gemeinsamkeit
       symbolisieren und zeigt sich tapfer. Er habe, sagt Martin Schulz, ja
       persönlich Erfahrung mit Rückschlägen. Er antwortet lang auch auf kurze
       Fragen, nur bei der inneren Sicherheit nicht. Die Union, sagt er knapp,
       müsse beim Bundeswehrskandal um Franco A. ihre Hausaufgaben machen. Ende
       der Durchsage. Selbstkritik? Fehlanzeige.
       
       ## Hoffen auf die anderen Regeln
       
       Das zeigt zweierlei: Die SPD stellt rhetorisch gegen die Union auf
       Kampfmodus um. Und sie hat keine souveräne Antwort. Die Niederlage in NRW
       ging auch auf die Kappe von Innenminister Jäger. Der begann als
       Law-and-Order-Mann und endete als Sheriff ohne Stern.
       
       Im Bund, hofft Karl Lauterbach, herrschen aber andere Regeln. Dort ist
       innere Sicherheit das Revier von CDU-Innenminister Thomas de Maizière.
       „Wenn die Union auf Sicherheitswahlkampf macht, nutzt das im Bund der AfD“,
       so Lauterbach. Dass die SPD somit gegen Angstkampagnen gefeit ist, kann man
       gleichwohl bezweifeln. Der SPD-Linke Axel Schäfer wünscht sich „jemand wie
       Schily, der auf Bundesebene für Sicherheit und Ordnung steht und den Leuten
       Vertrauen einflößt“. Nur – den gibt es nicht.
       
       Am Tag danach sieht man bei den Sozialdemokraten viele offene Enden.
       Flügelzwist gibt es nicht. Aber auch keinen vitalen Streit um die Linie.
       Eigentlich sollte am Montag der Entwurf für den SPD-Leitantrag – das
       Regierungsprogramm – präsentiert werden. Das wurde vertagt auf nächste
       Woche. Die SPD muss sich erst mal sortieren. Und die Benommenheit
       vertreiben.
       
       16 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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