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       # taz.de -- Neues Egotronic-Album bei Audiolith: Raven für die Elternzeit
       
       > Das Hamburger Label Audiolith macht vieles anders. Egotronic bringen ein
       > Punk-Album heraus. Und Lars Lewerenz, der Chef, geht in Elternzeit.
       
   IMG Bild: „Ich nehme in Kauf, dass manche meine Songtexte platt finden“, sagt Torsun
       
       „Boah, war das früh heute Morgen!“, klagt Torsun Burkhardt scherzhaft. „Das
       Leben als Musiker hatte ich mir mal komplett anders vorgestellt.“ Der
       Sänger und Kopf der Band Egotronic beschwert sich nicht etwa über
       Interiewmarathons oder ausgedehnte Tourneen: Statt seinem Image gemäß wild
       zu feiern oder lange zu schlafen, nahm er um kurz nach sieben den Zug von
       Berlin, um pünktlich um zehn Uhr morgens in der Zentrale seines Labels
       Audiolith in Hamburg aufzuschlagen.
       
       Torsun trägt einen Antilopen-Gang-Hoody, trinkt Kräutertee und erzählt vom
       neuen Album seiner Band Egotronic. „Keine Argumente!“ heißt es. So
       freundlich und begeisternd er spricht, kann man sich kaum vorstellen, wie
       wütend er in seinen Songs werden kann. Obwohl es schon das achte Album der
       Band ist, bringen den 43-Jährigen die Zustände in Deutschland immer noch
       verlässlich in Rage – und die sind seit dem Egotronic-Debüt, „Die richtige
       Einstellung“ (2006), nicht unbedingt besser geworden.
       
       Damals begann Torsuns Aufstieg zur Elektropunk-Galionsfigur und zum
       antideutschen Vorzeige-Raver. Auf Gigs wehen Israel-Fahnen, anfangs waren
       Partys genauso wichtig wie die Adorno-Exegese. Beim neuen Album geht es
       nicht mehr um die Feierei. Inhaltlich geprägt ist es von innenpolitischen
       Ereignissen der vergangenen Jahre, wie den Reaktionen auf die sogenannte
       Flüchtlingskrise.
       
       Der Auftaktsong gibt die Richtung vor. Bei „Deutschland, Arschloch, fick
       dich“ geht Torsun mit den rechten Wutbürgern von Freital und Dresden ins
       Gericht. Weiter geht es mit dem galligen [1][„Scheiße bleibt Scheiße“], das
       in den beschwörend vorgetragenen Zeilen gipfelt: „ ‚Nie wieder Deutschland‘
       ist nicht irgendeine Phrase / ‚Nie wieder Deutschland‘ / Ich mein’ es, wie
       ich’s sage!“
       
       ## Den Humor nicht verloren
       
       Torsun wirkt im Gespräch mit der taz bestimmt: „Ich lasse in meinen Texten
       keinen Spielraum für Interpretationen“, erklärt er. „Sie sollen nicht zu
       liberalen Wischiwaschi-Positionen umgedeutet werden können. Eindeutigkeit
       mochte ich schon am Deutschpunk, als ich jung war und Bands wie Slime
       gehört habe. Dafür nehme ich gern in Kauf, dass manche meine Songtexte
       platt finden. Viel wichtiger ist doch, ob die Aussage dahinter stimmt.“
       
       Seinen Humor hat Torsun aber nicht verloren. In dem Stück [2][„Odenwald“]
       verarbeitet er hinreißend nörgelig seine triste Jugend in der hessischen
       Provinz. Gitarre spielt Rod González, hauptberuflich bei der Band Die
       Ärzte, der das Egotronic-Album auch produziert hat. Punk ist Thema des
       Songs „Die neue Hammerhead“, einer überdrehten Hommage an eine
       Hardcore-Punk-Legende aus Bad Honnef.
       
       „Ich weiß die Welt riecht streng nach Pisse“ wiederum erweist sich als
       wundervoll-abseitiges Liebeslied. Ja, die Liebste wird vermisst, aber ihre
       Anwesenheit würde die Welt nur relativ gesehen besser machen, und so
       schlecht ist Netflix in einsamen Stunden auch nicht. Wird Torsun rührselig,
       antwortet der Chor: „Was für’n Opfer!“ Großartig!
       
       Die Billophase mit Drumcomputer und Computerspiel-Sounds ist bei Egotronic
       Geschichte. Nach dem vorletzten, von gitarrenlastigem Indie-Pop geprägten
       Album „Die Natur ist dein Feind“ stellte Torsun für die Bühnenpräsentation
       eine Band zusammen, mit der er auch den Nachfolger „Egotronic – C’est moi!“
       aufnahm. Dafür spielten sie alte Egotronic-Stücke in Punk-Versionen neu
       ein. War eine nette Idee, die dennoch ein bisschen planlos wirkte, aber nun
       zu den packenden Kompositionen von „Keine Argumente!“ führte.
       
       ## Makel Männerband
       
       Der aktuelle Sound von Torsun und seinen Mitstreitern Kilian Teichgräber
       (Synthesizer), Christian David Born (Gitarre), Daniel Reuschenbach
       (Schlagzeug) und Kai Adams (Bass) hat seine Basis klar im Punkrock. Seiner
       Wucht kann man sich nicht entziehen. Auffällige elektronische Klänge werden
       punktgenau eingesetzt, verleihen manchen Stücken einen aufwühlenden
       New-Wave-Einschlag.
       
       Torsun schwärmt von seinen Musikerkollegen, einen Makel sieht er trotzdem:
       „Ich wollte gern eine Musikerin dabei haben. Das Popbusiness ist voll von
       Typen, ob Indie- oder Punk, Frauen sind in der Minderheit. Weil ich mich
       als Antisexisten sehe und feministische Positionen teile, hätte ich da gern
       ein Zeichen gesetzt. Ich habe auch herumgefragt, aber es hatte keine Frau,
       die in Frage kam, Zeit oder Lust.“
       
       Am Ende des Gesprächs lobt er noch sein Label Audiolith von Herzen: „Ich
       veröffentliche Musik bei einem Label, dessen Mitarbeiter enorm viel
       Idealismus an den Tag legen und hinter meinen Songs stehen. Darüber bin ich
       sehr froh.“ Gegründet wurde Audiolith vor 14 Jahren von dem Nordlicht Lars
       Lewerenz, der den Laden zunächst im Alleingang schmiss. Heute arbeiten zehn
       fest angestellte Mitarbeiter für das Hamburger Independent-Label.
       
       Dessen Markenzeichen ist die Kombination aus exzessiver Party und politisch
       linker Haltung, die in unterschiedlichen Formen auch von den Künstlern
       vertreten wird. Anfangs kamen diese vor allem aus dem Elektro-Bereich.
       Heute gehören zur Audiolith-Vielfalt unter anderem das mit queerem Rave
       gestartete Münchner Dancepop-Trio Tubbe, die experimentierfreudige
       Hitschmiede Frittenbude, die Punkrock-Antifa-Aktivisten Feine Sahne
       Fischfilet aus Mecklenburg-Vorpommern sowie die Zeckenrapper Neonschwarz.
       
       ## Die Welt ein bisschen besser machen
       
       Label-Chef Lewerenz ist jetzt 40. Immer nur Party, Mucke und
       Berufsjugendlichkeit, darauf hat selbst er keine Lust. Momentan ist er in
       Elternzeit, damit er sich um seinen zweiten Sohn kümmern kann. Wie Torsun
       ist auch Lewerenz früh auf den Beinen: Das Interview steigt um 8.45 Uhr in
       einem Café, sein Kind schläft währenddessen in der Karre am Tisch.
       
       „Die Reaktionen auf meine Elternzeit waren positiv“, erzählt er. „Ich hatte
       das im Newsletter angekündigt, daraufhin kamen sofort Glückwünsche.“ Dass
       er eine Weile aus dem Label-Alltag aussteigt, war für ihn
       selbstverständlich. „Diese Zeit mit dem Kind kann ich nicht verschieben.
       Das findet jetzt statt. Bei Audiolith haben wir deshalb ganz solide einen
       Jahresplan erstellt und eine Vertretung angeheuert. Ich weiß, dass der
       Laden auch ohne mich läuft und genieße jetzt entspannt die Elternzeit.“
       
       Ganz lösen kann er sich aber nicht von der Arbeit. Zurzeit zerbricht er
       sich den Kopf darüber, wie das Label gesellschaftspolitische Initiativen
       effektiver unterstützen kann. „Wir möchten uns weiterhin für die gute Seite
       der Macht einsetzen und die Welt ein bisschen besser machen“, sagt er.
       
       Manchmal übersteigen die Erwartungshaltungen von Aktivisten allerdings die
       Möglichkeiten des Labels: „Alle Künstler bekommen etwa 25 Anfragen pro
       Monat für Soliauftritte. Das können wir einfach nicht alles umsetzen. Wir
       versuchen, Absagen vernünftig zu begründen. Manche Leute sind trotzdem
       sauer. Ich denke, dass eine Fokussierung rein auf Solikonzerte nicht
       zeitgemäß ist. Das ist ein enormer Aufriss, verbunden mit riesigem Zeit-
       und Personalaufwand.“
       
       Audiolith setzte Ende vergangenen Jahres anders ein Ausrufezeichen: „Wir
       haben unseren gesamten Labelkatalog von 1.600 Songs als MP3-Download für 25
       Euro ins Netz gestellt und die Einnahmen an Cadus gespendet, einem mobilen
       Krankenhaus für Syrien und den Nordirak. Das waren 20 Gigabyte,
       zwischendurch ist der Server in die Knie gegangen, aber am Ende konnten wir
       dennoch 20.000 Euro überweisen“, erzählt Lewerenz.
       
       Sicher hat er bald wieder eine ähnlich zündende Idee parat. Jetzt aber muss
       er dringend los, um rechtzeitig mit seinem Sohn zur Eingewöhnung in der
       Krippe zu sein.
       
       11 May 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=ORH51K6NuCE
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=WvWY0KfQEus
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sven Sakowitz
       
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