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       # taz.de -- Besuch beim Literaten Aras Ören: „Seine Fremde bist du“
       
       > Aras Ören ist der große Dichter des Einwanderungslands Almanya. Sein Werk
       > beschäftigt sich mit Sprachlosigkeit und Metamorphosen.
       
   IMG Bild: Dem Fotografen sagt er, Schreiben sei schön, macht aber einen krummen Rücken
       
       Er sei ein preußischer Charakter, schreibt Friedrich Christian Delius
       lobend über „den ersten in Deutschland lebenden türkischen Dichter“ und
       „Erzvater der türkisch-deutschen oder deutsch-türkischen Autoren“. Delius’
       Beitrag steht in einer Festschrift, die anlässlich des 75. Geburtstags von
       Aras Ören vor drei Jahren erschien.
       
       Zwei Minuten vor drei also Klingeln am goldenen Schild des Hauses in der
       Fasanenstraße. Durch den Hof in den Seitenflügel rechts und ein paar
       Stockwerke nach oben. Der Besucher wird von der einladend offen stehenden
       Wohnungstür empfangen. Aras Ören wartet einen Schritt hinter der Tür. Er
       trägt immer noch einen Schnauzbart, wie er früher zu jedem Mann aus der
       fernen Türkei zu gehören schien. Weiß ist er geworden.
       
       Ören trägt die alte Uniform der linken Schriftsteller, Jeans und Hemd. Ein
       wenig gebeugt steht er da, aber präsent, noch etwas abwartend, aber
       freundlich zugewandt. Später wird er dem Fotografen sagen, Schreiben sei
       schön, mache aber einen krummen Rücken. Jeden Tag tausend Meter schwimme
       er, stand in der Festschrift, er trinke Bardolino und rauche Pfeife. Wir
       werden noch ein Glas Wein zusammen trinken.
       
       Durch die Küche geht es durch einen kurzen Flur voller Bücher hinein ins
       Berliner Zimmer. Rechts ein Fenster zum Hof, davor der Schreibtisch voller
       handgeschriebener Manuskripte. (Es gibt ein Laptop im Haus, aber gemailt
       wird nicht.) Das Zimmer ein langer Schlauch hin zur Straße, das zur Rechten
       Platz bietet für noch mehr Bücher, zur Linken für Gemälde in Petersburger
       Hängung. „Als Kind wollte ich Maler werden“, sagt er, „fast alle Bilder,
       die Sie hier sehen, sind von Malern, die ich persönlich kenne oder mit
       denen ich befreundet bin.“ Mit fast 78 habe er genügend Zeit gehabt, zu
       sammeln.
       
       ## Eine neue Wirklichkeit
       
       Ören liebt den magischen Realismus von Natascha Ungeheuer. Gleich drei
       Bilder der Berliner Malerin hängen in seinem Salon. Eines zeigt einen
       liegenden nackten Mann mit dunklem Teint, schwarzen Haaren und einer
       Erektion, die sich gen Himmel reckt. Daneben sitzt eine blasse Dame, die
       ihn betrachtet. Die archaischen Vorstellungen von Hygiene und Sexualität
       vieler Gastarbeiter, die aus einem orientalischen Mittelalter in die
       westliche Moderne katapultiert wurden, sind ein wiederkehrendes Motiv in
       den Texten Örens, die auch feministische Texte sind.
       
       Vor allem aber ist er der Dichter, der die Metamorphosen derer beschrieben
       hat, die sich nach ihrer Ankunft in Deutschland unweigerlich verändern
       mussten. Dadurch hat er schneller als alle anderen verstanden, dass die
       Neuankömmlinge auch dieses Deutschland verändern würden. „Auf eine neue
       Wirklichkeit bewegen wir uns zu, und ihr mit uns“, schrieb er einst.
       
       Rückblickend meint er: „Ich habe schon 1972 in einer ‚Aspekte‘-Sendung
       gesagt, da war von Integration noch keine Rede: ‚Ein Fluss kehrt nicht
       zurück zu seiner Quelle.‘ Ich war der Erste, der entdeckt hat, dass es
       keine Gastarbeiter sind, sondern dass es eine Einwanderungswelle ist. Denn
       langsam wurden die Kinder geboren. Die Situation konnte nicht so bleiben:
       Entweder wir sitzen in diesem Stuhl oder in einem anderen. Die Einwanderer
       können mit ihrer alten Identität und ihrer mitgebrachten Kultur nichts mehr
       anfangen. Es muss eine neue Kultur und eine neue Identität entstehen. Das
       war damals mein Tenor, und so sahen wir es auch im Radio.“ Ab 1974
       arbeitete Ören als Redakteur beim Sender Freies Berlin, er war einer der
       Gründer der türkischen Redaktion.
       
       Örens großes, 1973 beim Rotbuch Verlag erschienenes Poem „Was will Niyazi
       in der Naunynstraße“ ist einer, vielleicht sogar der grundlegende Text des
       Einwanderungslands Almanya. Umso merkwürdiger, wie wenig präsent der
       Erzvater im integrationsseligen Deutschland von heute ist.
       
       Es tut ihm sichtlich weh, dass sich die Jungen nicht für ihn interessieren,
       aber er hat auch eine These parat, warum das so ist: Sie wollen nicht an
       das Leben ihrer Großeltern erinnert werden, die in einem fremden Land
       zurechtkommen mussten, die in heruntergekommenen Häusern der Innenstädte
       lebten, als Menschen nicht anerkannt waren, nicht gesehen wurden.
       
       Die Kinder und Kindeskinder der Frauen und Männer, von denen man glaubte,
       sie seien Gastarbeiter, haben studiert. Jetzt schreiben sie Bücher und sind
       in der Politik aktiv. Sie sitzen in Talkshows und kommentieren das
       Zeitgeschehen. Wenn die mit den exotischen Namen das machen, was die mit
       den vermeintlich weniger exotischen Namen auch tun, nennt man das
       „Integration“.
       
       Wer verstehen will, was grundsätzlich falsch ist an dieser Idee, muss nur
       ein paar alte Zeilen von Ören lesen: „Ein Mann bleibt stehen und sieht dich
       an. / Sieht die Fremde in deinem Gesicht. Du siehst ihn an. / In euren
       beiden Gesichtern ist eine Fremde, / ein seltsamer Kummer, der wie ein
       säuerlicher Geschmack / euer ganzes Leben durchzieht. / Deine Fremde ist
       seine Fremde, / seine Fremde bist du.“
       
       ## Übervater Brecht
       
       Seine letzten neun Bücher sind allesamt nur in der Türkei, seinem „Exland“,
       wie er sagt, verlegt worden. Ören tut sich schwer, Übersetzer zu finden,
       die ihm liegen. Derzeit arbeitet er an einem autobiografischen Werk. Und
       eben hat der Verbrecher Verlag ein Lesebuch mit dem Titel „Wir neuen
       Europäer“ herausgegeben. Darin sind Gedichte, Erzählungen und Auszüge von
       Reden versammelt, die zwischen 1974 und 1999 erschienen sind.
       
       Warum aber kam dieser Mann nach Deutschland? Ören wurde 1939 in Istanbul
       geboren. Im grünen Stadtteil Bebek, auf der europäischen Seite des
       Bosporus, wuchs er auf. In einer Gesellschaft, die sich aus Muslimen,
       Katholiken, Griechisch-Orthodoxen, Armeniern, Einwanderern aus dem Balkan
       und Flüchtlingen aus Deutschland, Ungarn und Rumänien zusammensetzte.
       Gemein war ihnen das Türkische, viele sprachen es mit Akzent. In seiner
       Schulklasse gab es eine Christine und die Brüder Kurt und Wolf Peter. Ende
       der Fünfziger war Ören Mitglied einer studentischen Theatergruppe, die
       progressives, politisches Theater machen wollte. Ihr Übervater war Bertolt
       Brecht, man las die Texte von Erwin Piscator, den Ören bald darauf in
       Westberlin kennenlernen sollte.
       
       1962 wurde er mit seiner Gruppe von der Neuen Bühne, einer Frankfurter
       Studententruppe, nach Erlangen eingeladen. Man gab „Eli“, das 1943 von
       Nelly Sachs geschrieben worden war. Örens Rolle war die des Großvaters, der
       am Ende des Stücks nur den Namen Eli zu rufen hat. „Eli“, das war ein
       jüdischer Junge, der während eines Pogroms im Osten von einem deutschen
       Soldaten erschlagen wird. Bald darauf spielte man zusammen „Die Ausnahme
       und die Regel“ von Brecht in verschiedenen türkischen Städten. „In der
       Türkei gab es noch kein Brecht-Stück“, sagt Ören, „wir haben es übersetzen
       lassen.“
       
       ## Erst kommt das Fressen
       
       Brechtianisch muten viele seiner Gedichte an – auch das Theaterstück, das
       Gastarbeiter in Örens Erzählung „Manege“ inszenieren? Statt darauf zu
       antworten meint Ören, „in Klammern“, wie er sagt: „Warum ist die AKP in der
       Türkei so beliebt? Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Erdoğan hat das
       Fressen, den Wohlstand gebracht.“
       
       In den Sechzigern hielt er sich immer wieder in Deutschland auf, 1969 zog
       er nach Berlin. Den Ausschlag gab der Militärdienst, über den er nicht viel
       mehr sagen will als das: „Die Älteren und Ranghöheren hatten das Recht,
       dich zu schlagen. Ich habe zwei Zähne verloren. Danach wollte ich nicht
       mehr in der Türkei bleiben.“
       
       Nun teilt der Dichter das Schicksal der Gastarbeiter, begleitet und
       beobachtet sie. Er muss in der Fabrik arbeiten, um seinen Lebensunterhalt
       zu verdienen. In seinen Gedichten geht es um die Sprachlosigkeit der
       Einwanderer, die selbst noch nicht wissen, dass sie welche sind, und er
       reflektiert, was es heißt, als Schreibender, der auf Übersetzer angewiesen
       ist, mit einer „geliehenen Sprache“ arbeiten zu müssen. Das ist
       problematisch, aber auch produktiv: „Mit dem, was ich nicht verstehe,
       erweitert und bereichert sich meine neue Sprache.“
       
       Seine Aufgabe und, im Nachhinein betrachtet, auch sein Verdienst sei es
       gewesen, Kommunikation herzustellen. „Ich habe im Namen der Gastarbeiter
       die Visitenkarte von Niyazi an Frau Kutzer gegeben, und die Visitenkarte
       von Frau Kutzer an Niyazi“, sagt Aras Ören und schenkt noch ein Glas Wein
       ein.
       
       Es gibt Germanistikprofessoren, die meinen, Örens Gedichte, Erzählungen und
       Romane müssten von der Turkologie behandelt werden. Das ist falsch. Aras
       Örens Werk ist das Werk des ersten deutschen Autors, der auf Türkisch
       schreibt.
       
       28 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
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