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       # taz.de -- Organisierte Kriminalität: Thüringer Palmen
       
       > Ein Gericht verhandelt die Klage eines Gastronomen auf Schmerzensgeld.
       > Der MDR soll ihn zu Unrecht als Mafia-Mitglied dargestellt haben.
       
   IMG Bild: Auf dem Weg zum Landgericht Erfurt kommt man an Palmen vorbei
       
       Erfurt taz | Auf dem Weg vom Hauptbahnhof zum Landgericht bleibt der Blick
       an wunderschön und kostspielig renovierten Bürgerhäusern hängen. In
       Toplagen beherbergen sie die ganze Palette des gastronomischen Angebots von
       Erfurt, von rustikalen Thüringer Wirtshäusern bis zu Restaurants,
       Ristoranti und Eisdielen. Die Fußgängerzone ist mit Palmen geschmückt.
       
       Wer sich auf dem Weg zu einer Gerichtsverhandlung befindet, bei der es
       unter anderem darum geht, ob Erfurt eine Art Deutschlandzentrale der
       italienischen Mafiaorganisation ’Ndrangheta ist, könnte bei diesem
       südlich-pittoresken Flair der Thüringer Landeshauptstadt kurz innehalten
       und an den sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia denken. Der hat
       einst von der „Linie der Palme“ gesprochen: So wie die Palmen nach Norden
       wanderten, so wandere die Mafia mit ihnen. Ob diese [1][Linie der Palme] im
       herausgeputzten Erfurt angekommen sein mag?
       
       Im Landgericht erscheint der Kläger deutlich verspätet im Saal. Er ist im
       Vergleich mit allen anderen Beteiligten auffallend leger gekleidet – und
       gibt auch sonst den Boss: „Kamera aus“, ist seine herrische Ansage an einen
       MDR-Mann, der sogleich sein Gerät wegpackt. Die lässig-mediterrane Haltung,
       mit welcher der vorsitzende Richter Henning Scherf das Wartenlassen
       kommentiert hatte („na gut, jetzt ist es gerade mal halb“) ist verflogen.
       Wer wann in einem Gerichtssaal zu filmen hat, wäre natürlich seine
       Entscheidung – die hat ihm der Kläger schon mal abgenommen.
       
       ## San Luca und Locri
       
       Anlass der Verhandlung an diesem Morgen des 19. Mai 2017 vor der dritten
       Zivilkammer des Erfurter Landgerichts ist der MDR-Film [2][„Provinz der
       Bosse – Mafia in Mitteldeutschland“] von Axel Hemmerling, Ludwig Kendzia
       und Fabio Ghelli. Der Film dokumentiert mutmaßliche Aktivitäten der aus der
       süditalienischen Region Kalabrien stammenden Mafia-Organisation
       ’Ndrangheta in Mitteldeutschland, speziell von Clans aus der Mafiahochburg
       San Luca/Locri. Die Dokumentation war im November 2015 ausgestrahlt worden.
       Nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden vom August 2016 darf
       der Film in der Ursprungsfassung nicht mehr gezeigt werden. Im November
       2016 legten die Autoren eine Neufassung vor, die unbeanstandet blieb und
       über die [3][ARD-Mediathek] abgerufen werden kann.
       
       Geklagt hatte eben der italienische Gastronom, der auch hier in Erfurt als
       Kläger auftritt. Der Mann, der zwei Betriebe in Erfurt führt, sagt, er
       werde zu Unrecht der Mitgliedschaft in der ’Ndrangheta verdächtigt. Und
       trotz Anonymisierung sei er im MDR-Film identifizierbar. Die sächsischen
       Richter gaben ihm recht. Wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte
       fordert der Mann nun zusätzlich ein Schmerzensgeld von insgesamt 50.000
       Euro – vom MDR und den drei Autoren des Films.
       
       Die Frage nach der Präsenz der italienischen Mafia in Deutschland, aber
       nicht minder die, wie man die Öffentlichkeit über sie in [4][Kenntnis
       setzen] darf, hatte zuletzt der „[5][Fall Augstein/Reski]“ aufgeworfen. Der
       Gastronom hatte nämlich auch mit einer Klage gegen die Journalistin und
       Mafia-Expertin [6][Petra Reski] Erfolg gehabt. Durch einen am 17. März 2016
       in der Wochenzeitung der Freitag erschienenen Artikel, in dem er namentlich
       erwähnt wurde, sah er seine Persönlichkeitsrechte verletzt. Gegenstand von
       Reskis Artikel war die erwähnte Klage gegen den MDR.
       
       Reski fühlte sich mit dieser Klage vom Freitag [7][im Stich gelassen.]
       Freitag-Herausgeber Jakob Augstein wehrte sich gegen diesen Vorwurf.
       Redaktionen seien keine „Rechtsschutzversicherung für mangelhafte
       Recherche“, sagte er der FAZ. Der Freitag hatte den Artikel im September
       2016 gelöscht.
       
       Petra Reski erhielt indes – was Augsteins Verständnis von Journalismus und
       solidarischem Verhalten angeht – [8][breite Unterstützung] in den deutschen
       Leitmedien. Umso erstaunlicher ist, dass an diesem schwülwarmen Tag in
       Erfurt sich kein Vertreter eben jener Leitmedien eingefunden hat: Neben der
       taz begleiten der [9][MDR] und ein Kollege der [10][Thüringer Allgemeinen]
       den Prozess. Die Mafia in der Provinz scheint weniger interessant zu sein
       als Jakob Augstein in Berlin.
       
       ## Geringe Erfolgsaussichten
       
       Passend dazu zweifelt Richter Scherf in seinem einführenden Statement
       daran, ob bei einem Regionalsender „die ganz große Öffentlichkeit“
       überhaupt gegeben sei, und stellt die Frage in den Raum, wie schwerwiegend
       die Persönlichkeitsverletzung am Kläger überhaupt gewesen sein könne. Seine
       Kammer räume der Klage „nicht so die Aussicht auf Erfolg“ ein.
       
       Rechtsanwalt Sylvio Krüger gibt sich unbeeindruckt, er hat Erfahrung in
       diesem Bereich. Seine kleine, aber bemerkenswert umtriebige Kanzlei aus
       Zwenkau bei Leipzig war schon im Jahr 2009 erfolgreich gegen das Buch
       [11][„Mafialand Deutschland“] des Journalisten Jürgen Roth vorgegangen, den
       Erfurter Gastronomen vertrat sie von Anfang an.
       
       Krüger betont, es habe sich um einen Beitrag zur besten Sendezeit mit einem
       Millionenpublikum gehandelt, ausgestrahlt von der „zweitgrößten
       Fernsehanstalt“ in Deutschland – in Wirklichkeit ist der MDR die
       fünftgrößte ARD-Anstalt. Krüger spricht von „Trittbrettfahrern“, die sich
       an die MDR-Berichterstattung („derart schlechte Recherchen“) rangehängt
       hätten, und betont, dass man den Prozess „auch weiter führen“ werde, „wenn
       wir hier verlieren“.
       
       Autor Ludwig Kendzia hält dagegen, dass der MDR-Beitrag seriös sei. „Die
       Gegenseite weiß“, sagt er, „dass wir bestimmte Quellen nicht preisgeben
       können.“ Das MDR-Team habe jahrelang in Deutschland und Italien
       recherchiert. Ursprung ihrer Arbeit sei ein im Internet abrufbarer Artikel
       von Fabio Ghelli vom November 2013 in der [12][Berliner Zeitung] gewesen,
       in dem die Landnahme der ’Ndrangheta speziell in Berlin und Erfurt
       beschrieben wird – und zwar vom berüchtigten Lokal Da Bruno in Duisburg
       aus, der Stadt, wo vor zehn Jahren ein Massaker zwischen zwei verfeindeten
       Clans aus San Luca Deutschland kurzfristig aus dem Tiefschlaf hinsichtlich
       der Präsenz der ’Ndrangheta riss.
       
       ## Eine Ikone
       
       Kendzia betont, die von ihm und den Kollegen dargestellten Sachverhalte
       beruhten auch auf dem knapp 300 Seiten starken Bericht des
       Bundeskriminalamts ([13][BKA]), „Die Ndrangheta in Deutschland“, aus dem
       Jahr 2008. Die Existenz dieses Berichts – die von der Gegenseite in
       vorangegangen Prozessen bestritten worden sei – sei vom BKA ausdrücklich
       bestätigt und sein Inhalt in Hintergrundgesprächen mit „direkt und
       unmittelbar“ beteiligten Ermittlern erörtert worden.
       
       Doch als Kendzia die Recherchen beim italienischen Antimafia-Kriminalamt
       (DIA) in Rom und in Kalabrien darlegt, geschieht etwas Bemerkenswertes.
       Kendzia nennt den Namen [14][Nicola Gratteri], der seit 2016 die
       Staatsanwaltschaft im kalabrischen Catanzaro leitet. Gratteri ist eine
       Ikone der Anti-Mafia-Bewegung, seit 1989 steht der Staatsanwalt unter
       Personenschutz.
       
       In Deutschland wurde Gratteri bekannt, weil er die Ermittlungen im Fall des
       [15][Duisburger Massakers] leitete, die 2011 zur von Tumulten begleiteten
       Verurteilung der Täter im Gericht von Locri führten. „Dass die Mafia ihn
       töten will, steht außer Frage“, schrieb der Spiegel. Als Kendzia nun
       Gratteri zitiert, lacht der Kläger, der bis dahin die Verhandlung
       regungslos verfolgt hat, verächtlich auf und schüttelt einfach nur den
       Kopf. Auch er stammt aus Locri.
       
       Dass er „richtig wütend“ sei über das, was seiner Ansicht nach der
       MDR-Beitrag ausgelöst habe, betont der Kläger in seinem abschließenden
       Statement. Er habe Karriere gemacht in Deutschland, alle Leute würden ihn
       kennen, er habe nichts zu tun mit den „verrückten Leuten dort unten“ in
       Kalabrien.
       
       Eine Entscheidung will die Kammer am 30. Juni 2017 um 13 Uhr verkünden –
       angesichts der „Pressepräsenz“ (Richter Scherf) wieder im Verhandlungssaal
       anstatt im Hinterzimmer. Wenn das keine Aufforderung an die Leitmedien ist.
       
       In einer ersten Fassung des Beitrags wurden die Namen der beiden in der
       Anwaltskanzlei „Werner & Krüger“ arbeitenden Rechtsanwälte versehentlich
       vertauscht. Wir bitten um Entschuldigung.
       
       26 May 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.mdr.de/thueringen/dossier-provinz-der-bosse-die-mafia-in-mitteldeutschland100.html
   DIR [2] /Archiv-Suche/!5351817&s=kendzia/
   DIR [3] http://www.ardmediathek.de/tv/Exakt-die-Story/Revier-der-Paten-Mafia-in-Mitteldeutsc/MDR-Fernsehen/Video?bcastId=7545348&documentId=38843780
   DIR [4] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1047231.wie-deutsches-recht-die-mafia-schuetzt.html
   DIR [5] https://kress.de/news/detail/beitrag/137559-der-fall-augstein-reski-die-mafia-und-die-pressefreiheit.html
   DIR [6] http://www.petrareski.com/blog/
   DIR [7] http://www.sueddeutsche.de/medien/verlage-relatives-muss-1.3448852
   DIR [8] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-der-freitag-zu-seiner-autorin-petra-reski-steht-14951361.html
   DIR [9] http://www.mdr.de/thueringen/prozess-mdr-landgericht-erfurt-100.html
   DIR [10] http://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/suche/detail/-/specific/Erfurter-Gastronom-verklagt-den-MDR-2041600990
   DIR [11] http://www.zeit.de/2010/05/Mafia-Journalisten/komplettansicht
   DIR [12] http://www.berliner-zeitung.de/mafia-im-netz-der-clans-3857092
   DIR [13] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/ItalienischeOrganisierteKriminalitaet/italienischeorganisiertekriminalitaet_node.html
   DIR [14] /!428138/
   DIR [15] /!264551/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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