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       # taz.de -- Kinofilm „Jahrhundertfrauen“: Die Frauen, die ihn prägten
       
       > Ein sperriger, toller Film über Aufwachsen und Emanzipation: Mike Mills
       > zeigt in „Jahrhundertfrauen“ die weiblichen Einflüsse auf sein Leben.
       
   IMG Bild: Braucht es einen Mann, um einen Mann zu erziehen? Szene aus „Jahrhundertfrauen“
       
       In einer der vielen schönen und des Mitschriebs werten Szenen in
       „Jahrhundertfrauen“ geht es um Punk. Anlass sind die „Raincoats“, deren
       Debütsingle die 24-jährige Abbie (Greta Gerwig) zusammen mit dem
       15-jährigen Jamie (Lucas Jade Zumann) anhört. Neugierig auf das, was ihr
       Sohn so macht, betritt Mittfünfziger-Mutter Dorothea (Annette Bening) das
       Zimmer und hört mit.
       
       „Können die Dinge nicht einfach schön sein?“, fragt sie irritiert. Jamie
       antwortet: „Schöne Musik wird nur dazu benutzt, um zu verdecken, wie unfair
       und korrupt die Gesellschaft eigentlich ist!“ – „Aber sie wissen, dass sie
       nicht gut spielen können?“, insistiert Dorothea. Genau darum gehe es, führt
       Abbie aus: um die Energie, die entstehe, „wenn die Leidenschaft größer ist
       als die Werkzeuge, die einem zur Verfügung stehen, um damit umzugehen“. Man
       hat lange niemanden so zärtlich und treffend vom Punk sprechen hören – dass
       es hier eine Frau ist, tut besonders gut.
       
       Punk ist für die Beteiligten ein Thema, weil der Film im Jahr 1979 im
       kalifornischen Santa Barbara spielt. Wobei die genaue Jahres- und
       Ortsangabe weniger ein bedeutsames Wendedatum ankündigt, sondern mehr eine
       Art Koordinatenangabe ist: In diesem Jahr, an diesem Ort kreuzen sich die
       Leben von Jamie und seiner Mutter Dorothea mit denen von Punk-Kennerin
       Abbie sowie Nachbarin Julie (Elle Fanning) und Mitbewohner William (Billy
       Crudup).
       
       Die fünf sitzen mit anderen zusammen, als Präsident Jimmy Carter seine
       „Crisis of Confidence“-Rede hält, die seine schlechten Wiederwahlchancen
       nur noch verfestigt. Dorothea aber findet sie „beautiful!“ Jamie ist in
       Julie verliebt, die in ihm nur den guten Freund sehen will. Abbie hat
       gerade eine Krebserkrankung überstanden und kämpft mit der Diagnose, nie
       Kinder haben zu können. William renoviert Autos und Häuser, aber seine
       Leidenschaft gilt der Meditation und dem Töpfern. Dorothea sieht ihren Sohn
       heranwachsen und bemerkt, wie er ihr von Tag zu Tag fremder wird. Damit
       wäre die Handlung von „Jahrhundertfrauen“ auch schon weitgehend
       beschrieben.
       
       Oder auch nicht, weil erstens all diese „Ereignisse“ nicht in die
       herkömmliche Drehbuchdramatik mit Aufbau, Krise und Auflösung gebracht
       werden. Und weil zweitens das Augenmerk dieses schrägen und im besten Sinne
       sperrigen Films sich immer auf etwas anderes, Beiläufiges richtet, auf die
       eingangs zitierte Punk-Diskussion oder auf eine dahingeworfene Bemerkung
       Dorotheas, dass „Liebesschmerz ein großartiger Weg ist, um etwas über die
       Welt zu erfahren“. Oder auf Abbie, die bei einem geselligen Abendessen die
       Männer am Tisch das Wort „Menstruation“ so oft aussprechen lässt, bis es so
       natürlich klingt, wie die Sache selbst ist. Etwas verträumt Anekdotisches
       haftet diesem Film an, der die üblichen „Coming of Age“-Klischees weit
       hinter sich lässt.
       
       Zwar trägt der Film spürbar autobiografische Züge, mit Jamie als Stand-in
       für den Regisseur und Autor Mike Mills, der ihn selbst als das von seiner
       eigenen Mutter inspirierte Gegenstück zu seinem „Vater-Film“ „Beginners“
       (2010) bezeichnet hat. Aber Mills bricht die eigene Perspektive immer
       wieder auf, indem er seine Figuren aus dem Off einzeln von sich erzählen
       lässt.
       
       Und während das Jahr 1979 vergeht, verleiht er ihnen in vertikalen
       Zeitachsen individuelles Gewicht: Abbie (geboren 1955) zog einst zum
       Studieren nach New York, weil ihr in Santa Barbara alle zu glücklich taten.
       Dorothea (1924) wollte mal Pilotin werden. Julie (1962) erforscht in
       mutigen Selbstexperimenten den Zusammenhang von Sex und Macht.
       
       ## Beschreibung der Frustration
       
       So ist „Jahrhundertfrauen“ eine Hommage an die Frauen, die ihn – Jamie/Mike
       – geprägt haben. Aber was sonst oft auf einen narzisstischen Bericht über
       erotische Obsessionen hinausläuft, geht Mills von einer ganz anderen Seite
       an. Hier ist es die Mutter, die vorschlägt, dass Abbie und Julie mit ihren
       Erfahrungen zur Erziehung Jamies beitragen sollen, vielleicht aus dem
       Gefühl heraus, zu alt (sie hat ihren Sohn mit 40 bekommen) und zu
       eigentümlich zu sein, um aus ihm einen „zeitgemäßen Mann“ zu machen.
       
       „Braucht es nicht einen Mann, um einen Mann zu erziehen?“, fragt
       ausgerechnet Julie. Dorothea schüttelt den Kopf: Nein, das denkt sie nicht.
       Dass ihr wenig später Abbies frauenbewegte Offenheit und Julies sexuelle
       Experimentierfreude als Überforderungen für ihren Sohn erscheinen, ist da
       kein Widerspruch. Jamie seinerseits greift das Lernangebot an weiblichen
       Erfahrungen willig, wenn auch nicht ohne Verstörung auf.
       
       Bei aller Verneigung vor den weiblichen Einflüssen beschreibt der Film
       letztlich eine Frustration: die eigene Mutter nie richtig kennengelernt zu
       haben. Annette Bening spielt diese neugierige, offene, aber sich ihrem Sohn
       immer wieder entziehende Frau völlig ohne Weichzeichner, spröde und sperrig
       und ganz, ganz großartig.
       
       18 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Schweizerhof
       
       ## TAGS
       
   DIR Kino
   DIR Roadmovie
   DIR Coming-of-Age-Film
       
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