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       # taz.de -- Ausdauer Sabine Albert hat tausend Kraniche aus einem Stück Papier gefaltet. Wie macht man das – und warum?: Andere laufen eben Marathon
       
   IMG Bild: Vier Monate lang hat Sabine Albert gefaltet. Manchmal hätte sie gerne alles in den Papierkorb geworfen
       
       Von Katharina Müller-Güldemeister (Text) und Eva Z. Genthe (Foto)
       
       In Japan, dem Land der Origamikunst, sagt man: Wer tausend Kraniche faltet,
       hat einen Wunsch frei. Sabine Albert wohnt nicht in Japan und war auch nie
       dort, aber tausend Kraniche hat sie schon dreimal gefaltet.
       
       Albert ist 71 Jahre alt und lebt in Karlsruhe. Auch bei ihr ging es die
       ersten beiden Male um Wünsche. Fragt man sie danach, winkt sie ab. „Die
       sind persönlich“, sagt sie. Aber ihr Lächeln erzählt, dass sie wohl in
       Erfüllung gegangen sind.
       
       Beim dritten Mal trieb kein Wunsch sie an, sondern die Herausforderung,
       tausend Kraniche aus einem Stück Papier zu falten. Genauer gesagt aus einem
       160 Meter langen und 8 Zentimeter breiten Streifen Papier. „Wer da nicht
       perfekt faltet, kann es vergessen.“
       
       Die Sache mit der Perfektion kam bei Albert vor dem Origami. Mit 13 Jahren
       begann sie eine Ausbildung zur Goldschmiedin. Später bemalte sie Eier, die
       sie auf Märkten verkaufte. Sie wollte zu den Ständen gehören, an die sich
       die Leute erinnern, und fasste einen Entschluss: Nur das Ergebnis zählt,
       Zeit spielt keine Rolle. Bis zu 1.500 Mark bekam sie für ein perfekt
       bemaltes Straußenei. Auf Hühnereier schrieb sie mit Wachs und heißer Feder
       Goethes „Osterspaziergang“ in Sütterlin. Passte nicht alles drauf oder
       verschrieb sie sich, wanderte das Ei in die Tonne statt auf den
       Verkaufstisch. „Ich habe gelernt, in solche Fehler keine Emotionen
       reinzulegen. Kopf runter, weitermachen“, sagt sie.
       
       Mit Origami hat Albert 2008 angefangen. Die meisten Figuren hat sie sich
       mithilfe von Anleitungen auf Youtube beigebracht. „Youtube hat so viel
       Geduld, auch beim hundertsten Mal meckert es nicht“, sagt sie und lacht. An
       Papier verwendet Albert alles, was ihr vor die Finger kommt: neben
       handgeschöpftem Origamipapier auch Bäckertüten, Kassenzettel und Maßbänder
       von Ikea.
       
       An Origami fasziniert sie, dass es wie gemacht ist für ihren Drang nach
       Perfektion und Gestaltung. Um beispielsweise die perfekte Rose
       hinzubekommen, hat sie nach einer Anleitung drei Wochen lang täglich viele
       Stunden experimentiert; hat die Falten mal näher an andere Falten, mal
       weiter weg gelegt, unterschiedliche Papierstärken und -farben ausprobiert.
       „Der Papierkorb war jeden Abend voll.“
       
       Als Künstlerin sieht Albert sich nicht. „Das sind die, die die Figuren
       entwerfen. Ich kombiniere und verarbeite nur.“ Doch wenn man sich in
       Alberts Wohnung umsieht, möchte man ihr widersprechen. Die Wohnung ist voll
       von kleinen Kunstwerken aus Papier – Kraniche kommen besonders oft vor.
       Manche schweben als winziges Mobile in einer Glühbirne, andere sind wie
       eine Schmetterlingssammlung drapiert.
       
       Ihre zweiten tausend Kraniche hat Albert in einem alten Koffer wie kleine
       Perlen aufgereiht. Den Koffer ziert ein großer Aufkleber mit dem
       japanischen Mädchen Sadako Sasaki. Albert erinnert gerne an die traurige
       Geschichte Sadakos. Die war zwei Jahre alt, als in der Nähe ihres Hauses in
       Hiroshima die Atombombe abgeworfen wurde, mit elf Jahren bekam sie
       Leukämie. Im Krankenbett fing Sadako an, tausend Kraniche zu falten. 644
       schaffte sie, bevor sie starb. „Ihre Schulklasse hat die restlichen
       Kraniche für sie gefaltet“, erzählt Albert.
       
       Durch Sadakos Geschichte wurden Origamikraniche zu einem Symbol für Frieden
       und den Widerstand gegen den Atomkrieg. Es liegt aber nicht nur an der
       Geschichte, dass der Kranich so oft in Alberts Arbeiten vorkommt. „Die
       Faltung liegt mir einfach, ich finde sie schön“, sagt sie. Und es gebe so
       viele Variationen.
       
       Für ihre dritten tausend Kraniche hat sie das Design von Jim Churns
       „Dollar-Crane-Ring“ verwendet und es so abgeändert, dass sich ein Kranich
       an den nächsten reiht. Obwohl sie sie schon so oft gefaltet hat, geht sie
       die Schritte trotzdem immer wieder durch, als müsste sie sie jemandem
       erklären. „Es gibt so viele Stellen, an denen du Fehler machen kannst“,
       sagt sie. Sei es beim Zuschneiden der Papierrolle, beim Einteilen des
       Papiers oder beim Falten selbst. „Du darfst nicht abschweifen, sonst kannst
       du die Exaktheit nicht halten.“
       
       Für zehn Kraniche braucht Albert etwa zweieinhalb Stunden. Wenn sie rund um
       die Uhr falten würde, bräuchte sie für tausend Kraniche mehr als zehn Tage.
       Damit Albert nach einer Pause nicht durcheinanderkommt, hat sie sich eine
       Anleitung geschrieben und Buch geführt. „Wenn ich auf die Toilette gehe
       oder telefoniere, schreibe ich auf, bei welcher Faltstufe und bei wie viel
       Kranichen ich gestoppt habe.“ Manchmal finden sich auch besondere
       Vorkommnisse in ihrem Buch, etwa: „Kranich 656 hat mit dem Staubsauger
       geknutscht! Hilfe. Aber alles wieder gut.“ Ihre bessere Hälfte hat mit
       Origami nicht viel am Hut, freut sich aber, wenn Albert etwas Schönes
       gelingt.
       
       Über vier Monate hat Albert an ihrem vom Umfang her größten Projekt
       gearbeitet. Nicht nur einmal war sie kurz davor, es in den Papiermüll zu
       werfen. Doch nun ist aus 160 Metern Kraftpapier eine etwa 80 Meter lange
       Kranichkette geworden. „Es ging mir dabei auch ums Durchbeißen. Andere
       laufen Marathon, ich bin Extremfalter.“
       
       Letztes Wochenende hat Albert ihre tausend Kraniche auf dem Internationalen
       Origami-treffen in Bonn ausgestellt. „Es tut mir gut, wenn Leute ‚Wow‘
       sagen“, sagt sie. Präsentiert hat sie ihre dritten tausend Kraniche wieder
       in einem Koffer. „Der Kranich ist ein Zugvogel. Meine Kraniche können zwar
       nicht fliegen, aber Zug fahren.“
       
       3 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Müller-Güldemeister
       
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