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       # taz.de -- Ökonom über Dekolonialisierung: „Afrika hat alles, um sich zu ernähren“
       
       > Der Senegalese Felwine Sarr über traditionelle Werte, demokratische
       > Strukturen und wirtschaftliche Unabhängigkeit.
       
   IMG Bild: Die Ressourcen sind da, doch der globale Norden verhindert eine effektive Nutzung
       
       taz: Herr Sarr, in Ihrem Buch „Afrotopia“ sprechen Sie von der
       Notwendigkeit der „Dekolonialisierung des Geistes“. Wir blicken auf ein
       halbes Jahrhundert Unabhängigkeit afrikanischer Staaten zurück. Was meinen
       Sie, wenn Sie von Dekolonialisierung sprechen? 
       
       Felwine Sarr: Es ist wichtig zu verstehen, dass die Unabhängigkeit der
       afrikanischen Länder, Ende der fünfziger Jahre, nur eine formelle
       Anerkennung der Souveränität war. Der Kolonialismus, der sich seit
       Jahrhunderten eingepflanzt hat, ist nicht innerhalb von sechzig Jahren
       abgeschafft. Das sind zwei verschiedene Sachen. Die tief eingegrabenen
       Herrschaftsformen zu dekolonialisieren ist ein langer Prozess. In diesem
       Prozess muss alles dekolonialisiert werden: die Sprache, das Wissen, der
       Blick auf sich selbst, die Mentalitäten und die Psychen. Der Kolonialismus
       zeichnete sich nicht nur durch die Dominanz der Wirtschaft und des Militärs
       aus, sondern auch durch eine systematische epistemische Gewalt. Dies
       spiegelt sich bis heute in den Strukturen der Bildungssysteme, den Formen
       der Produktionen und der Elitenformierung wieder. Nach der Unabhängigkeit
       waren die afrikanischen Regierenden zum Großteil Marionetten des Westens.
       Es wurde imitiert, was die europäischen Länder vorgegeben haben.
       Ursprüngliche Herrschaftsformen der präkolonialen Zeit wurden nicht
       offiziell integriert.
       
       Können Sie mir konkrete Beispiele solcher präkolonialen Ordnungen oder
       Institutionen geben, die in Zukunft eine wichtige Rolle spielen könnten? 
       
       Das tun sie ja inoffiziell schon die ganze Zeit. Im Senegal, zum Beispiel,
       ist die Macht eine Aushandlung zwischen den religiösen, politischen,
       ökonomischen und spirituellen Mächten. Wenn es einen gesellschaftlichen
       Konflikt gibt, dann werden traditionelle und spirituelle Eliten
       konsultiert. Die Bevölkerung hat einfach mehr Vertrauen in diese
       traditionellen Strukturen. Deswegen müssen wir über Institutionen
       nachdenken, die sowohl die repräsentative Demokratie als auch die
       traditionellen Wertesysteme integrieren. Ein anderes Beispiel für die Macht
       traditioneller Eliten ist Burkina Faso: Beim Sturz des letzten Präsidenten,
       war es der traditionelle König Mogho Naba, der als Mediator zwischen den
       verschiedenen Konfliktparteien fungiert hat. Er hat den Frieden
       ausgehandelt, weil er bei allen Akteuren als traditionelle Autorität
       anerkannt ist. Oder Ruanda: Als der Genozid 1994 passiert ist, und überlegt
       wurde, wie mit den Tausenden von Tätern umgegangen werden soll, haben sie
       eine Justiz eingeführt die zuvor existiert hat – die Gacaca-Gerichte.
       
       Was genau ist das? 
       
       Das sind Gerichte aus der präkolonialen Zeit. Sie wurden aufgegriffen und
       reformiert und das hat ihnen erlaubt, diese hochkomplizierte Situation
       aufzulösen und eine traditionelle Form der Justiz in ihr aktuelles System
       einzubauen. Das sind Beispiele zur Lösung von Konflikten, die traditionelle
       Wertesysteme integrieren. Und auch Formen von Demokratie waren in
       präkolonialen Strukturen erkennbar: In der Geschichte Äthiopiens finden
       sich demokratische Strukturen, im Senegal hat das Volk der Wolof
       Gesellschaften in Räten organisiert, in denen unterschiedliche
       Berufsgruppen repräsentiert waren. In Südafrika haben die Xhosa eine
       demokratische Ordnung etabliert. Wir sind einfach blind allem gegenüber,
       was vor dem Kolonialismus existiert hat, und das ist meiner Meinung nach
       ein Fehler. Gleichzeitig bedeutet das aber auch nicht, dass wir in die
       Vergangenheit zurückkehren wollen oder diese romantisieren.
       
       Sie sind in erster Linie Ökonom. Was ist Ihre ökonomische Vision für die
       Gestaltung des Kontinents? 
       
       Als erstes denke ich, sollte man festhalten, dass der Kontinent alle
       notwendigen Ressourcen mitbringt, um sich zu ernähren: Afrika hat enorme
       Bodenschätze, energetische Ressourcen, wichtige Erden und eine sehr junge
       Demografie. Dann muss man sich anschauen, wie unsere Wirtschaftssysteme
       funktionieren. Die informelle Arbeit ernährt heute in Afrika mehr Familien
       als die formelle Arbeit. Sie produziert einen sehr großen Teil unserer
       Wirtschaft. Das müssen wir verstehen und nicht verteufeln. Westliche
       Messungsinstrumente erfassen diesen großen Sektor nicht …
       
       Eine Zwischenfrage: Ich verstehe, dass informelle Arbeit eine große Rolle
       spielt. Aber wenn so viele Menschen keine Steuern zahlen, wie sollen
       beispielsweise Infrastrukturen finanziert werden? 
       
       Ich werfe den klassischen Ökonomen vor, dass sie die informelle Arbeit
       verteufeln, weil diese Menschen außerhalb der Steuer arbeiten. Die Steuer
       ist wichtig für die Infrastrukturen und Umverteilung. Aber es wird
       vergessen, dass Formen der Umverteilung auch im Informellen stattfinden.
       Das ist nur eine Vision, aber ich glaube, man sollte die informelle Arbeit
       nicht nur als ein finanzielles Defizit sehen. Man sollte versuchen ihre
       Vorteile zu sehen und da, wo sie limitiert sind, sollte man sie
       reformieren. Eines der Limits ist ihr schwacher Beitrag zu den kollektiven
       Steuern. Aber es gibt auch viele Vorteile. Da es so hohe Arbeitslosenraten
       in vielen afrikanischen Ländern gibt, ist die informelle Arbeit ein sehr
       wichtiger Faktor der sozialen Stabilität. Das ist eine Form der Wirtschaft,
       die unheimlich viel umverteilt, viel mehr als der Staat und …
       
       … weil die Person ihre Familie finanziert? 
       
       Ja, natürlich, die Familie, die Cousins, Freunde, Onkel und so weiter, und
       sie spielt damit eine Rolle, die der Staat nicht ausfüllt. Würden wir in
       Wohlfahrtsstaaten leben, würde ein funktionierendes Steuersystem diese
       Rolle übernehmen. Aber diese Formen der informellen Wirtschaft verteilen an
       Stelle des Staates. Und das finde ich sehr interessant. Und deswegen gibt
       es eine sehr große Kluft zwischen dem, was die internationalen Indikatoren
       über den Kontinent aussagen und was die Menschen in der Realität leben.
       
       Doch leben viele dieser Menschen ohne soziale Absicherung. Ein fliegender
       Händler in Dakar oder einer anderen afrikanischen Großstadt verdient mal
       viel, mal wenig … 
       
       Ich stimme Ihnen zu. Aber der fliegende Händler ist nur eine Dimension.
       Auch Industrielle, die sehr viel Geld verdienen, arbeiten häufig informell.
       Man sollte nicht vergessen, dass unsere Gesellschaften seit langer Zeit so
       funktionieren und die Menschen in ihren Bezirken oder Dörfern eigene
       Systeme der Umverteilung haben. Es finden sich soziale Mechanismen in
       dieser Form der Wirtschaft, und diese Systeme bedenken auch Risiken und
       versuchen die kollektive Gemeinschaft zu unterstützen. Und ich glaube auch
       da haben wir einen kolonialen Blick. Diese Formen der Wirtschaft werden
       nicht ernst genommen. Wir denken immer, dass die Systeme, die international
       verbreitet sind, besser sind. Aber nein, wenn man dieses Formen ernst
       nimmt, dann kann viel entstehen.
       
       Was denn zum Beispiel? 
       
       Schauen Sie sich die tontine im Senegal an, eine informelle Bank, die von
       Frauen betrieben wird. Das ist ein Mechanismus, der seit Jahrhunderten
       funktioniert, darauf kann und sollte man aufbauen. Wir sollten uns auf die
       soziale Intelligenz dieser Mechanismen stützen und diese integrieren. Wir
       sind immer in einer Wirtschaft des Mangels. Wir schauen immer darauf, was
       wir nicht haben, was nicht gut läuft. Wir bauen nicht auf unseren eigenen
       Ressourcen auf. Das ist aber für die Zukunft des Kontinents essenziell.
       
       5 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Lipowsky
       
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