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       # taz.de -- Justiz in der Türkei: Teepflücken mit der Präsidentin
       
       > Was, wenn die höchste Justizbeamte des Staates die Neutralität der Justiz
       > proklamiert und gegenteilig handelt?
       
   IMG Bild: Die Justiz spielt Blinde Kuh
       
       Kennen Sie den Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts in Deutschland
       namentlich? Wohl kaum. In der Türkei kennt nahezu jeder Zerrin Güngür, die
       Präsidentin des Staatsrats – des Danıştay, einem Äquivalent des deutschen
       Oberverwaltungsgerichts.
       
       Anlässlich einer Feier zum 149. Jubiläum des Hohen Gerichtshofs Mitte Mai
       sprach sie unter anderem über den Ausgang des Referendums und den
       Notstandsdekreten. Natürlich sollten Urteile von unabhängigen Gerichten in
       absoluter Neutralität gefällt werden, erklärte Güngör in ihrer Rede.
       
       ## Rede ließ aufschreien
       
       Doch dann folgte der Satz: „Zweck des Ausnahmezustands und der unter ihm
       erlassenen Dekrete ist es, die staatlichen Institutionen von Angehörigen
       terroristischer Organisationen zu säubern und die Demokratie zu schützen“.
       Angesichts der breit angelegten Entlassungswelle von über 100.000
       Staatsbediensteten entfachte dieser Satz der höchsten Richterin einen
       medialen Aufschrei.
       
       Doch nicht erst mit dieser Rede sorgte die Präsidentin für
       Diskussionsstoff. So gibt es Bilder von ihr, auf denen sie versucht, vor
       Staatspräsident Erdoğan – als Zeichen der Ehrerbietung – ihre knopflose
       Robe zuzuknöpfen, oder die sie mit dem Staatspräsidenten Erdoğan in Rize
       beim Teepflücken zeigen. Ihre Tochter absolvierte als Protegée des
       Staatspräsidenten ihr Rechtsreferendariat im Regierungspalast und ihr
       Schwiegersohn wurde in die Leitung des Unternehmens berufen, das den Palast
       des Staatspräsidenten erbaute.
       
       Protest regte sich gegen die zitierte Rede der Präsidentin, weil die
       Besetzung eines weiteren hohen Organs innerhalb des Justizapparates von der
       Öffentlichkeit kritisch beäugt wird.
       
       Nach Beendigung des strittigen Referendums werden in Zukunft sechs der 13
       Mitglieder des Rats der Richter und Staatsanwälte, HSYK, künftig vom
       Staatspräsidenten ernannt. Die restlichen sieben Mitglieder vom Parlament –
       das aller Wahrscheinlichkeit nach der Kontrolle des Staatspräsidenten
       unterstehen wird.
       
       ## Wir haben keine Verfassung mehr
       
       Unter vernünftigen Umständen müsste die Rede der Präsidentin von
       vernünftigen Bürger*innen kritisiert werden können. In einer Situation
       aber, in der die für eine unabhängige Justiz notwendigen Mechanismen nicht
       vorhanden sind, und vorhandene abgeschafft werden, können wir weder von der
       Präsidentin noch von irgendeinem Richter erwarten, dass sie unabhängig,
       neutral und persönliches Interesse trennend, entscheiden.
       
       Für alle, die es nicht wissen oder so tun, als wüssten sie es nicht, sei
       erneut daran erinnert: Seit dem 16. April ist die Türkei ihrer Verfassung
       beraubt! Die Republik existiert noch, doch die verfassungsgebundene
       Demokratie ist am Ende.
       
       Selbstverständlich wird es auch künftig ein Schriftstück mit der
       Bezeichnung „Verfassung“ geben. Dieses Dokument kann aber der
       Verfassungsrechtsdoktrin entsprechend nicht als Verfassung gelten, da es
       das Prinzip der Gewaltenteilung nicht garantiert und somit Artikel 16 der
       allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, einer Grundlage
       modernen Verfassungswesens, widerspricht.
       
       Dort heißt es: „Eine Gesellschaft, in der die Rechte nicht garantiert sind
       und die Gewaltenteilung nicht festgeschrieben ist, hat keine Verfassung.“
       Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der größten Oppositionspartei CHP, einem
       der bedeutendsten Pfeiler des Nein-Blocks, nahm trotzdem an der Feier zum
       55. Gründungstag des Verfassungsgerichts teil.
       
       Dort posierte er mit dem Premierminister und Parlamentspräsidenten fröhlich
       für Fotos. So mag sich die ein oder andere Bürger*in immer noch fragen:
       „Vielleicht doch?“ Deshalb sei noch einmal wiederholt: Wir haben keine
       Verfassung mehr.
       
       ## Demokratie wiederherstellen
       
       Einen Ausweg von den Präsidentschaftswahlen 2019 zu erwarten oder darauf zu
       hoffen, dass der gewählte Staatspräsident zu diesem oder jenem Block
       gehören möge, kann für die Defekte der türkischen Demokratie höchstens eine
       provisorische Lösung sein. Selbst wenn 2019 eine andere Person als der
       jetzige Staatspräsident gewählt werden sollte, kann das nicht die
       hinreichend dauerhafte Lösung sein.
       
       Die Lösung der aktuellen Probleme liegt darin, dass Demokratie und
       Gerechtigkeit an die Macht kommen und zwar mit der großen Unterstützung der
       Bevölkerung. Dazu braucht es keine Politiker*innen, die die Demokratie für
       eine Straßenbahn halten, aus der man aussteigt, wenn man am Ziel ist.
       
       Sondern solche, deren Demokratieverständnis mit Pluralismus angereichert
       ist. Verfassung und Rechtsordnung sollten so angelegt sein, dass sie vor
       Personen und Tendenzen geschützt sind, die die Demokratie ausnutzen und die
       Möglichkeiten, die sie bietet, aushebeln wollen.
       
       Solange es keine Bewegung auf Bürgerebene mit diesem Bewusstsein gibt, sind
       alle aufgeklärten und vernünftigen Politiker*innen isoliert. Was wir
       benötigen, ist eine Bewegung, die für die ersehnte Demokratie eintritt,
       ohne ihre Menschlichkeit, ihr Gewissen und ihre Courage aufzugeben. Und
       eine Politik, die in dieser Bewegung wurzelt. Bis dahin werden noch viele
       Zerrin Güngörs auftreten. Doch Geduld, das geht vorbei.
       
       Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
       
       25 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Muratcan Sabuncu
       
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