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       # taz.de -- Filmdoku über staatliche Willkür: (K)eine Familiengeschichte
       
       > 1986 wurde ein Paar wegen Mitgliedschaft in der RAF verurteilt – zu
       > Unrecht. 20 Jahre später verfilmt ihr Sohn die Geschehnisse.
       
   IMG Bild: Acht Jahre saßen seine Eltern zu Unrecht im Gefängnis. Ihren Sohn sahen sie nur bei Besuchen
       
       „Als wir verhaftet wurden, hatte ich dich auf dem Arm“, ist die Stimme der
       Mutter zu hören. „Und da haben sie gesagt, sie werden uns mitnehmen. Und
       dann hast du total geweint.“ Auf einem der Fotos, die in einer Collage
       vorbeirauschen, trägt eine blonde Frau einen kleinen Jungen.
       
       1986, da war er zwei Jahre alt, sind Florian Dedeks Eltern verhaftet
       worden. Ihnen wurde vorgeworfen, einen Sprengstoffanschlag auf Masten
       einer Bundesgrenzschutzanlage in Nordrhein-Westfalen verübt zu haben.
       Sympathisantentum oder Mitgliedschaft bei der RAF, lautet die Anklage.
       Dedeks Eltern kommen ins Gefängnis – das Strafmaß beträgt zehn Jahre. Nach
       einem Revisionsverfahren müssen sie acht davon absitzen, in Isolationshaft.
       Als sie wieder herauskommen, ist Dedek zehn.
       
       Jetzt hat er, über zwanzig Jahre später, einen Film über die Lücke in
       seiner Kindheit gemacht: Dedek studierte an der Hochschule für Grafik und
       Buchkunst in Leipzig, seine 32 Minuten lange filmische Abschlussarbeit „Da
       muss es ja ein was weiß ich was Gutes geben“ läuft momentan auf vielen
       deutschen Festivals und wird immer wieder mit Preisen ausgezeichnet.
       
       Denn die Geschichte ist nicht nur wegen des eventuell darin innewohnenden
       Traumas eines verlassenen Kindes unfassbar, sondern auch wegen der
       juristischen Umstände: Dedeks Eltern haben die Tat nicht begangen. Sie
       haben sie auch nicht gestanden – verurteilt worden sind sie wegen der
       Aussage eines damaligen Kriminalhauptkommissars, der, wie später
       herauskommt, für die Stasi gearbeitet hat: Er sprach von einem
       Bekennerschreiben. Vorlegen konnte er es nicht.
       
       „Wir haben uns damit beschäftigt“, hört man Dedeks Mutter im Film, „wir
       wollten auch was sabotieren, wir wollten Sabotageaktionen machen. Aber das
       waren wir nicht.“ Doch solidarisiert haben sie sich mit den Zielen der RAF,
       und, wie die Mutter erklärt, „uns auch verantwortlich gefühlt“. Darum
       hätten sie eben nicht auf unschuldig plädiert – und so auf sich genommen,
       für ein Verbrechen in den Knast zu müssen, dass sie nicht begangen haben,
       es aber hätten begehen können. Die Stimme von Dedeks Mutter ist klar: „Das
       wäre der Verkauf gewesen“, erklärt sie ihrem erwachsenen Sohn, „von allem,
       auch von dir, von dem Leben mit dir.“ Dedeks Vater erlitt 2014 einen
       ersten, später einen zweiten Schlaganfall – kurz bevor Dedek ihn zum Thema
       befragen wollte.
       
       Von den monatlichen Besuchen im Gefängnis weiß Dedek nicht mehr viel. Im
       Film hört man ihn erzählen, wie er sich daran erinnert, mit seinem Vater
       bei einem Besuch Papierflieger gefaltet zu haben. Beim Interview in Berlin
       spricht er von einer Theorie, nach der „man sich an die Schlüsselmomente
       eigentlich nie erinnert, sondern die sich an Ereignisse koppeln, die nicht
       so wichtig sind“.
       
       ## Kunst statt Therapie
       
       Dedek ist groß, raucht viel und sieht seiner Mutter, die der Film über
       Fotos vor allem als junge Frau zeigt, bis auf die Haarfarbe sehr ähnlich.
       Er überlegt oft lange, bevor er antwortet. Lange hat er auch überlegt, ob
       er seine Geschichte überhaupt öffentlich machen soll. Doch dann hat er für
       sie dieses spezielle, atmosphärisch dichte und enorm persönliche Hybrid
       aus Kunst- und Dokumentarfilm maßgeschneidert.
       
       „Wenn ich mich als Kind sehe“, erzählt Dedek auf die Frage nach seinen
       damaligen Empfindungen, „kann ich mich an keinen Augenblick erinnern, an
       dem ich Wut gespürt habe.“ Er spricht von einem „nachträglichen
       Nachempfinden“, traurig sei er erst geworden, als er sich die Familienfotos
       als Erwachsener angeguckt hat. Er hätte auch eine Therapie, Analyse oder
       Hypnose wählen können, um herauszufinden, was mit einem Kleinkind passiert,
       dessen Eltern plötzlich verschwinden und somit langsam zu Fremden werden.
       Doch als in Dedek mit Mitte zwanzig das Verlangen wuchs, sich mit der
       Geschichte zu beschäftigen, feilte er an einem künstlerischen Ausdruck:
       „Das war ein Schlüsselmoment, als ich mich über die Kunst dem Thema nähern
       konnte.“
       
       Wut spürt man in diesem erstaunlichen filmischen Werk über eine
       Ungerechtigkeit im Rechtsstaat, die eine Familie zerrissen und einen Jungen
       von seinen Wurzeln gekappt hat, tatsächlich kaum. Er frage sich selbst,
       erzählt der Regisseur, ob er denn nicht eigentlich wütend sein müsste auf
       den Staat, auf die Eltern, warum das nicht so ist. „Aus diesem
       Nichtwütendsein, aus dieser Fehlstelle heraus hab ich meine Fragen
       gezogen.“ „Der Film ist die Auseinandersetzung mit einer Geschichte, die
       eine Familiengeschichte sein mag, darin aber auch Teil des politischen,
       mentalen und kulturellen Narrativs der Bundesrepublik ist – und zwar
       insofern die RAF in ihren transgenerationellen und multidirektionalen
       Bezügen immer auch als Familiengeschichte der Bundesrepublik zu verstehen
       ist“, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Svea Bräunert, die sich für ihre
       Dissertation mit der RAF im Zusammenhang mit den Künsten beschäftigte.
       
       Sie reiht Dedeks Geschichte damit „in eine Linie der Film- und
       Kunstgeschichte ein, die sich dem Linksterrorismus als Familiennarrativ
       nähert und damit notwendigerweise auf Formen des Gespenstigen, zunächst
       einmal verstanden als Form des transgenerationellen Erbens, rekurriert“.
       Bräunert nennt in einem Essay dazu auch Bernhard Verspers Roman „Die Reise“
       von 1977, in dem der zeitweilige Lebensgefährte Gudrun Ensslins und Vater
       von Felix Ensslindas Verhältnis zu seinem eigenen Vater reflektiert. Und
       Christian Petzolds Film „Die innere Sicherheit“ aus dem Jahr 2000, der sich
       – im Gegensatz zu anderen Filmen zum Thema – stärker mit der besonderen
       Familiensituation, den Beziehungen zwischen politisch handelnden
       Erwachsenen und Kindern oder Heranwachsenden beschäftigt.
       
       Doch Dedeks Zugang zu seinem Thema ist einerseits persönlicher und
       andererseits formal freier als der der anderer Regisseure. Er legt Musik
       von Hanns Eisler und Bertolt Brecht und einen von der Schweizer Musikerin
       Rahel Hutter eigens komponierten sphärischen Score unter und über die
       Bilder, verarbeitet einen Ausschnitt aus dem von Steve Reich komponierten,
       15 Minuten langen Musik- und Gesprächsmix „WTC 9/11“. Und er verstärkt den
       Eindruck der Abwesenheit seiner Eltern, indem er Gespräche mit ihnen (von
       seinem Vater hat er ein Interview, das der vor Jahren einem Journalisten
       gab) mit Fotos, Kamerafahrten, konzentrierten Details illustriert. Die
       Eltern scheinen immer noch nicht ganz zurück in seinem Leben zu sein.
       Vielleicht, wahrscheinlich kann man nach einer achtjährigen Foltererfahrung
       durch Isolationshaft nie wieder ganz im Leben ankommen.
       
       ## Gedanken statt Anklagen
       
       Als Dedek zehn war und seine Eltern entlassen wurden, wuchs Dedek weiter
       größtenteils bei seinen Pflegeeltern auf mit regelmäßigen Besuchen bei den
       Eltern. „Das war eine gute Entscheidung“, sagt er, „weil ich so vor der
       ganzen Geschichte geschützt wurde.“ Er hat inzwischen selbst eine Tochter.
       Das mag dazu beigetragen haben, den Bruch in der frühen Kindheit doch
       bearbeiten zu wollen.
       
       Wichtige und brenzlige Fragen, die der Dramatik des Geschehens innewohnen,
       formuliert der Regisseur in seinem Werk vorsichtig nicht als Anklage,
       sondern als Gedanken: „Der deutsche Rechtsstaat spricht Unrecht, obwohl er
       die Wahrheit nicht konstruieren kann. Die Täter schweigen“, sagt Dedeks
       Stimme aus dem Off. Für den Film besucht er einen „ehemaligen Revolutionär,
       der eine Bombe legte. Revolutionäre legen die Bombe, für die meine Eltern
       ins Gefängnis gehen. Sie könnten das Unrecht, das meinen Eltern widerfahren
       ist, aufdecken“, hört man wiederum seine Stimme, während jemand schwer
       atmend durch eine nächtliche, schneebedeckte Landschaft zu stapfen scheint.
       Jener „Revolutionär“, der im Nachspann nur mit einer Initiale aufgeführt
       wird, erklärt: „Für uns war damals eigentlich im Fokus weniger die Frage,
       wer hat da was gemacht. Sondern wo wollen wir hin politisch?“
       
       Dedeks Vater spricht später davon, dass die Medien, inklusive Süddeutscher
       Zeitung, Frankfurter Rundschau und taz, den Prozess als „RAF-Prozess“
       gebrandmarkt und auch so behandelt hätten. Und es ist die Rede von der
       Haltung der Bundesanwaltschaft in den 80er Jahren, besondere Härte zeigen
       zu wollen, um dem „Spuk“ mit der RAF, den auch Bräunert in ihrem Essay
       „Warum die Kulturgeschichte der RAF zum Gespenst hindrängt“ ausmacht,
       endlich ein Ende zu machen.
       
       „Für meine Eltern und Familien“ hat Dedek als Widmung an den Schluss seines
       Films gesetzt. Genau diesen Menschen, nicht den Gesetzen, ist zu verdanken,
       dass Dedeks Arbeit keine gespenstische Abrechnung geworden ist. Sondern
       eher eine geistvolle Annäherung.
       
       9 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jenni Zylka
       
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