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       # taz.de -- 75 Jahre Tagebuch der Anne Frank: Wenn Worte überleben
       
       > In Amsterdam schrieb die 13-Jährige ihren ersten Satz in das rotkarierte
       > Buch. Es ist das berühmteste Tagebuch der Welt geworden.
       
   IMG Bild: Anne Frank im April 1941
       
       Amsterdam taz | Reisende aus Japan waren es, die Gert-Jan Jimmink Ende der
       70er Jahre daran erinnerten, dass er nicht nur einen Buchladen hat, sondern
       viel mehr – nämlich historische Verantwortung. Mit Bussen kamen sie, kommen
       noch immer, steigen aus, gehen in den Laden, manche bitten ihn um
       Autogramme. Sie kamen schon, „als es diesen Anne-Frank-Tourismus noch gar
       nicht gab“.
       
       Das jüdische Mädchen ist in Japan fast eine Heilige. Und hier, in den
       Räumen von Jimminks Laden im Süden Amsterdams, befand sich früher die
       Buchhandlung Blankevoort. Dort kaufte Anne Frank im Juni 1942 mit ihrem
       Vater ein rotkariertes Poesiealbum, ein Geschenk zum 13. Geburtstag. Es
       wurde das berühmteste Tagebuch der Literaturgeschichte. Am 12. Juni 1942
       schrieb Anne Frank erste Zeilen hinein. Auch den Satz: „Ich hoffe, du wirst
       mir eine große Stütze sein.“
       
       75 Jahre später setzt sich Gert-Jan Jimmink auf einen Hocker vor dem Laden,
       drinnen ist kein Platz, überall sind Bücher. Der 68-Jährige ist Buchhändler
       und Historiker – aber vor allem ein politischer Mensch. Er hat die
       Verantwortung für Anne Frank angenommen.
       
       Otto Frank, Annes Vater, zog 1933 nach seiner Flucht aus Deutschland in das
       Viertel, die Rivierenbuurt im Süden Amsterdams. Seine Frau Edith und die
       Töchter Anne und Margot kamen 1934 nach. Die Häuser waren damals neu
       gebaut, vor allem die jüdische Mittelschicht ließ sich dort nieder.
       Menschen wie die Franks, die sich in den Niederlanden ein Leben in Freiheit
       erhofften. Die Häuser sehen heute noch so aus wie damals: rotbraune und
       beige Backsteine, weiße Fensterrahmen.
       
       ## „Die Vergangenheit lässt die Menschen nicht los“
       
       Besucher führt Gert-Jan Jimmink gerne dorthin, zum Merwedeplatz, nur wenige
       Meter entfernt von seiner Buchhandlung. Zwei Männer sonnen sich an diesem
       Nachmittag auf der schlichten Grünfläche. Vor ihnen steht Anne mit
       unauffälligem Gepäck in Bronze auf einem Sockel. Ihre ersten
       Tagebucheinträge schrieb sie im Juni 1942 hier, es ging um Alltägliches aus
       dem Leben einer 13-Jährigen: um Freundinnen, um Jungen, ums
       Pingpongspielen.
       
       Zehn Jahre, erzählt Jimmink, habe er für die Statue von Anne Frank
       gekämpft. Für ihn ist Anne „ein Symbol für all die Menschen, die ermordet
       worden sind“: Von den 17.000 Juden in der Rivierenbuurt überlebten den
       Holocaust nur 3.000. Jimmink kennt viele Schicksale und hat manche
       Geschichten auch schon oft erzählt. Von dem Mann etwa, der seine Frau
       verlor und nie wieder in die Straße zurückkehren wollte, in der sie gelebt
       hatten. Doch bis zu seinem Tod wohnte er in einer Querstraße – mit Blick
       auf das ehemalige Wohnhaus. „Die Vergangenheit lässt die Menschen nicht
       los.“
       
       Auch die Anne aus Bronze blickt zurück auf die Häuserreihe am Merwedeplatz.
       Vor der Hausnummer 37 sind vier Stolpersteine im Gehweg eingelassen. Hier
       lebte Familie Frank, bis die Situation für Juden auch in den besetzten
       Niederlanden zu gefährlich wurde: „Weg wollten wir, nur weg und sicher
       ankommen, sonst nichts“, schrieb Anne am 8. Juli 1942.
       
       Gemeinsam mit der Familie van Pels und später mit dem Zahnarzt Fritz
       Pfeffer versteckten sich die Franks im Hinterhaus des Gebäudes
       Prinzengracht 263, nur gut vier Kilometer weiter nordwestlich, in
       Amsterdams Zentrum. Im Vorderhaus befanden sich die Geschäftsräume von
       Annes Vater Otto, der mit Geliermittel und Gewürzen handelte.
       
       ## Sie gab die Hoffnung nie auf
       
       Heute hängt ein schlichtes Schild an der Fassade des Grachtenhauses: „Anne
       Frank Huis“. Davor eine Schlange wartender Touristen und Touristinnen in
       kurzen Hosen, offenen Schuhen. Es ist ein Tag Ende Mai, kurz nach sechs,
       schwere Hitze liegt über der Stadt. Ein Straßenmusiker geigt Coldplays
       „Viva la Vida“. Wie kitschig. Wie passend.
       
       Drinnen führt eine schmale Holztreppe in die ehemaligen Büroräume, die
       heute leer sind. Weiter oben steigen die Besucher durch den schmalen
       Eingang hinter dem Aktenschrank ins Versteck. Wenig ist übrig von der
       früheren Einrichtung: Reste einer Küchenzeile, ein Waschbecken, die
       Toilette. Es gab Tage, an denen sie das Klo stundenlang nicht benutzen
       durften. Die Gefahr war zu groß, entdeckt zu werden.
       
       An der Wand Bleistiftstriche, mit denen Familie Frank das Wachstum ihrer
       Töchter dokumentierte. 13 Zentimeter wuchs Anne in den zwei Jahren im
       Hinterhaus, eine Jugendliche, eingesperrt in düstere Räume. „Ich (…) habe
       ein Gefühl wie ein Singvogel, dem die Flügel mit harter Hand ausgerissen
       worden sind und der in vollkommener Dunkelheit gegen die Stäbe seines engen
       Käfigs fliegt“, notierte sie Ende Oktober 1943. Auch wenn sie die Hoffnung
       nie aufgab.
       
       Am 4. August 1944 entdeckten die Nazis das Versteck, brachten die Bewohner
       über das niederländische „Judendurchgangslager“ Westerbork nach Auschwitz
       und in andere Lager. Ob jemand die Untergetauchten verraten hat – und falls
       ja, wer –, ist bis heute ungeklärt. Nur Otto Frank überlebte. Anne starb
       Anfang 1945 in Bergen-Belsen, an Typhus und Erschöpfung.
       
       ## Die Menschen sollen die Leere spüren
       
       Ronald Leopold blickt von seinem Büro aus auf das Hinterhaus. Seit 2011 ist
       er Direktor der Anne-Frank-Stiftung. „Wir möchten das Haus allen Menschen
       zugänglich machen, die es sehen wollen“, sagt er. Aber die große
       Anziehungskraft macht das bisweilen schwierig:
       
       Im vergangenen Jahr kamen 1,3 Millionen Besucher, doppelt so viele wie
       vor 20 Jahren. Jeder zweite ist unter 30. Mehr als 400 Personen dürfen aus
       Sicherheitsgründen nicht gleichzeitig herein. Tag für Tag warten Menschen
       in langen Schlangen auf Einlass.
       
       „Die kraftvollste Eigenschaft des Hauses ist seine Leere“, sagt Ronald
       Leopold. Der Holocaust hat auch in Amsterdam, wo 1940 noch jeder zehnte
       Bürger Jude war, eine große Lücke hinterlassen. Eine Leere, die Touristen
       in der überlaufenen Stadt nicht bemerken. Im Anne-Frank-Haus sollen sie sie
       spüren.
       
       „Wir wollen keine Ausstellungshalle aus dem Haus machen“, sagt Leopold. Und
       doch müsse sich das Museum an die Besucher anpassen und mehr erklären. Denn
       vielen fehle der historische Hintergrund. „Wir haben unser Ziel erreicht,
       wenn die Leute das Haus mit Fragen verlassen“, sagt der Direktor. Mit
       Fragen nach den Folgen des eigenen Handels.
       
       ## Den Wunsch, man selbst sein zu dürfen, haben alle
       
       Leopold hat eine Lieblingsstelle im Tagebuch. Es ist nur ein kurzer Satz,
       der gut ins Jahr 2017 passe. „Lasst mich ich selbst sein (…)“, schrieb Anne
       Frank am 11. April 1944. Leopold wiederholt den Satz mehrfach. Der Wunsch,
       man selbst sein zu dürfen, gelte für alle. Für Minderheiten. Aber eben auch
       für Menschen, die den Verlust ihrer Identität geltend machen und deshalb
       den Populisten nachlaufen.
       
       „Let me be myself“: Annes Zitat steht auch über einem haushohen Wandbild im
       Norden Amsterdams. Im aufstrebenden Viertel hinterm Bahnhof, auf der
       anderen Seite des breiten Wasserwegs Ij. Das berühmteste Schwarz-Weiß-Foto
       von Anne hat der brasilianische Streetart-Künstler Eduardo Kobra 2016 in
       Bunt an die Backsteinwand einer Industriehalle gesprüht. Die Anne Frank des
       21. Jahrhunderts: 240 Quadratmeter groß und in Farbe.
       
       „Ich werde nicht unbedeutend bleiben, ich werde in der Welt und für die
       Menschen arbeiten“: dies ist ein weiterer Satz der Jugendlichen, ebenfalls
       vom 11. April 1944. Auf tragische Weise ist ihr das gelungen, davon ist
       Buchhändler Gert-Jan Jimmink am anderen Ende der Stadt überzeugt.
       
       Denn das Interesse an ihrer Geschichte wächst – mit der Hand zeichnet er
       eine Linie in die Luft, sie verläuft nach oben. Glücklicherweise, sagt
       Jimmink. „Denn zurzeit haben einige Menschen sehr viel Einfluss auf die
       Weltgeschichte der Zukunft, die offenbar keine Ahnung von der Vergangenheit
       haben.“
       
       11 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Busch
   DIR Anne Jeschke
       
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