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       # taz.de -- Die Wahrheit: Der Untergang des Badelandes
       
       > Blub, blub, blub, blub, blub, blub, blub, blub: Die Jugend taucht ab,
       > niemand kann heutzutage mehr schwimmen – ja und?
       
   IMG Bild: Heutige Kinder sind ja ohnehin nicht mehr das Gelbe vom Ei
       
       Zu Beginn der Badesaison schlägt die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft
       (DLRG) regelmäßig Alarm: Noch nicht einmal die Hälfte der Grundschüler kann
       noch schwimmen. Nach den Gründen braucht man nicht lange zu suchen, wenn
       man sich vor Augen hält, dass seit Jahren überall ganz offiziell fast nur
       noch „Nichtschwimmerkurse“ angeboten werden.
       
       Früher war zwar nicht alles besser, aber: Dafür brauchte es einst keinen
       teuren Kurs, Nichtschwimmen konnte man so. Ins Wasser springen und
       untergehen – das hatte man einfach drauf! Die anderen, die bei zehn immer
       noch mit mindestens einem Körperteil aus dem Wasser ragten, bekamen das
       Seepferdchen oder in der DDR das bronzene Schwimmabzeichen und galten nun
       als schwimmfähig. Bei der Sintflutvorsorge wurde für sie von da an kein
       Plätzchen auf einer Rettungsinsel mehr eingeplant.
       
       Heutige Kinder sind ja ohnehin nicht mehr das Gelbe vom Ei. Schwimmen
       können sie nur noch virtuell am Smartphone, vermutlich gibt es da
       irgendwelche Spiele oder Apps. Dazu passt es, dass viele Schulen gar keine
       Möglichkeit mehr haben, echten Schwimmunterricht anzubieten, weil es
       überall nur noch Spaßbäder gibt. Die stets gut gechlorten öffentlichen
       Schwimmhallen wurden privatisiert oder, was zumindest aus olfaktorischen
       Gründen nachvollziehbar war, gleich komplett abgerissen.
       
       ## Eine Eins in Schwimmen, ohne nass geworden zu sein
       
       Schwimmen wird nur noch als Theorie unterrichtet, die Kinder dürfen sich in
       sogenannten Erlebnisblöcken mit Wasserpistolen bespritzen, und in der
       letzten Schwimmstunde vor den großen Ferien legt der Lehrer „Der Weiße Hai“
       ein, den die Kinder total langweilig finden. Wer nicht ständig fehlt und
       kein Mobiliar oder Lehrkräfte aus dem Fenster wirft, bekommt eine Eins in
       Schwimmen, ohne jemals nass geworden zu sein!
       
       Doch vor das große Lamento hat der Herr zum Glück einen Moment des
       Innehaltens gesetzt (gut, hat er nicht, aber wir machen das jetzt trotzdem
       so). Also: Was wäre denn so schlimm, wenn alle Menschen Nichtschwimmer
       wären? Es gab da einen Opa zum Beispiel, Jahrgang 1909, der konnte nicht
       schwimmen, und wie ist er gestorben? An einem Herzinfarkt! Das hätte ihm
       auch als Schwimmer widerfahren können. Möglicherweise sogar unter weitaus
       dramatischeren Umständen, etwa beim Durchschwimmen der Bleilochtalsperre
       oder des Ochotskischen Meeres, wo ihm keine Krankenschwester noch ein Glas
       Wasser bringt!
       
       Ist es nicht in gewisser Weise zeitgemäß, vieles oder gar alles nicht zu
       können? Fehlendes Wissen, mangelnde Fähigkeiten und unterentwickelte
       Fertigkeiten durch Selbstbewusstsein zu substituieren? Wäre es nicht sogar
       wünschenswert, dass auch Schwimmer wieder das Nichtschwimmen erlernten,
       weil das dem Wesen des Menschen näher ist? „Wer schwimmt hat kein Geld für
       den Brückenzoll!“, sagt ein altes Sprichwort. Darin steckt eine tiefe
       Wahrheit, wenn man auch nicht genau weiß, welche.
       
       ## Ein Irrtum der Evolution
       
       Möglicherweise ist Schwimmen ein Irrtum der Evolution. Nicht für den Fisch
       – wie käme er sonst an die Haken mit den leckeren Würmern heran? –, aber
       für den Menschen. Erlernt hat er es vermutlich – wie alles andere auch –,
       weil er sich davon Vorteile versprach. Vorrangig bei der Jagd. Immer weder
       hatte er die Verfolgung der Beute an den Ufern von Seen und Flüssen
       abbrechen müssen, weil er nicht schwimmen konnte, das Wildbret hingegen
       sehr wohl. Also schnell einen Kurs gemacht (der damals noch „Schwimmkurs“
       hieß!), und dem Fluchttier hinterher ins kühle Nass! Aber ach – schwimmen
       konnte der Mensch jetzt, aber schnell schwimmen konnte er nicht. Während er
       sich mühsam über Wasser hielt, schwamm die Mahlzeit, betont lässig mit den
       Nüstern ein wenig im Wasser blubbernd, auf und davon. Der Mensch ist nicht
       als Schwimmer angelegt! Von einem Pinguin hätte selbst ein Michael Phelps
       im Wettkampf nichts als den schwarz-weißen Bürzel gesehen!
       
       Unseren schwimmunfähigen Grundschülern helfen diese Überlegungen nicht.
       Leid tun können einem nur die Eltern, die bei jeder mehr als zehn
       Zentimeter tiefen Pfütze fürchten müssen, ihr Kind könnte es ohne Hilfe der
       DLRG eventuell nicht schaffen. Oder nur, weil Fett oben schwimmt.
       
       Allerdings: Wenn der Schwimmunterricht ins Spaßbad verlegt wird, lernen die
       Kinder wenigstens, dass man oben an der Rutsche mit dem Start natürlich
       nicht auf das grüne Licht wartet, sondern seinem Vordermann spätestens im
       Auslauf mit großer Selbstverständlichkeit und Wucht seine Haxen in die
       Weichteile rammt. Mehr Vorbereitung auf das spätere Leben geht ja wohl
       kaum.
       
       12 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Niemann
       
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