URI: 
       # taz.de -- Feiern für die Pressefreiheit: Beistand für den „Agentterrorist“
       
       > Mit einer ausdrücklich unterhaltsamen Gala erinnern Freunde und
       > Unterstützer am Donnerstag in Hamburg an den inhaftierten Journalisten
       > Deniz Yücel
       
   IMG Bild: Konzert mit Botschaft: Feier zum Tag der Pressefreiheit.
       
       Es gäbe so viel schönere Jubiläen zu feiern: Die Berliner Wochenzeitung
       Jungle World etwa, als deren Mitherausgeber Deniz Yücel von Anfang an im
       Impressum steht, wird dieser Tage 20 Jahre alt. Dieser publizistische
       Stachel, der jede innerlinke Gemütlichkeit piekst, passt so sehr zu diesem
       langjährigen taz-Kollegen.
       
       Stattdessen sind hier 100 Tage von Bedeutung: So lange saß Yücel vergangene
       Woche, am 8. Juni, in Isolationshaft im türkischen Gefängnis Silivri – und
       das, so muss angenommen werden, einfach deshalb, weil er seine Arbeit zu
       gut gemacht hat in einem Land, in dem so etwas nicht mehr wohl gelitten
       ist.
       
       Das Thema stehe „ganz oben auf der Tagesordnung“, so hat es der
       Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), am Dienstag wieder
       gesagt: Wann immer die deutsche Regierung mit der türkischen zu tun hat,
       drängt sie demnach auf die Freilassung Yücels, der Pässe beider Länder
       besitzt.
       
       Ebenfalls am Dienstag sollte der Journalist erstmals Besuch vom deutschen
       Botschafter in Ankara bekommen. Immerhin: Die konsularische Betreuung
       funktioniert inzwischen im Großen und Ganzen, der deutsche Generalkonsul
       hat Yücel mehrfach besucht.
       
       ## Journalismus ist Terror
       
       Zur Last legt man Yücel „Terrorpropaganda“ und „Volksverhetzung“, eine
       konkrete Anklage steht aus. Präsident Recep Tayyip Erdoğan nannte ihn
       obendrein einen „Agentterrorist“ – „davon gibt es tatsächlich landauf,
       landab keinen Zweiten“, schrieb der Gefangene [1][gerade erst] an die (bzw.
       in der) Welt.
       
       Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) bezeichnet den Fall als große
       Belastung der bilateralen Beziehungen, größer sogar als die unterbundenen
       Besuche deutscher Parlamentarier bei den Bundeswehrsoldaten in Incirlik:
       „Wir sind sehr sicher, dass die Haft von Herrn Yücel unbegründet ist“, so
       Gabriel [2][dieser Tage] erst in den „Tagesthemen“. Man erwarte, „dass es
       Bewegung geben muss“.
       
       Dass Berlin sich wirklich ins Zeug lege, daran zweifeln manche Unterstützer
       von Yücel. Auch die Organisatorinnen und Organisatoren des
       Solidaritätsabends am Donnerstag in Hamburg bekunden auf Nachfrage den
       Eindruck, dass wohl mehr geschehen könnte, als es der Fall zu sein scheint.
       „Große Politik“ wolle man aber trotzdem nicht machen, sagt Yasemin Ergin,
       Journalistin beim NDR und eine der Ausrichtenden.
       
       Auch wenn es ein kurzes Hintergrundgespräch mit dem Hamburger
       Bundestagsabgeordneten Niels Annen geben wird, dem als außenpolitischer
       Sprecher seiner Fraktion ja ein gewisser Einfluss zukommen mag: „Es soll“,
       sagt Ergin, „schon um Unterhaltung gehen.“
       
       ## 350 KollegInnen in Haft
       
       Moderiert von „Tagesthemen“-Moderator Ingo Zamperoni will man mit Musik
       und Wortbeiträgen an Yücel erinnern. Man wisse, dass er über seine Familie,
       seine Frau oder auch seine Anwälte von solchen Aktionen erfahre. Es geht
       auch um die vielen anderen Journalisten, die längst nicht nur in der Türkei
       an der Ausübung ihres Berufs gehindert werden oder damit rechnen müssen.
       
       Es gehe um mehr als „350 Kolleginnen und Kollegen, die in rund 40 Ländern
       eingesperrt sind“ hieß es in dem von einem Dutzend Journalistinnen und
       Journalisten verlesenen „Brief an Deniz“ bei der Eröffnungsrede der Tagung
       des [3][„Netzwerk Recherche“] vergangene Woche in Hamburg.
       
       Donnerstagabend nun hat man, obwohl „keine Veranstaltungsprofis“, so Engin,
       beinahe schon ein kleines Festival auf die Beine gestellt – nicht so
       spektakulär wie [4][jenes am „Tag der Pressefreiheit“ am Brandenburger
       Tor], aber das ist ja nun kein zu gewinnender Wettbewerb. Da treffen die
       altgedienten, um Parolenhaftes weiß Gott nicht verlegenen Punkrocker von
       Slime auf einen berufsmäßigen Skeptiker wie Bernd Begemann, dem wohl wenig
       ferner liegen dürfte als irgendwelche orthodoxen Punkrock-Auslegungen.
       
       ## Alle sind sie da
       
       Frank Spilker, der solo auftritt, kennen viele als Stimme und Gesicht der
       einst der „Hamburger Schule“ zugeschlagenen Band Die Sterne – die spielten
       auch seinerzeit in Berlin, und Spilker legte [5][in der taz] dar, wie es
       aus seiner Sicht kommen konnte zu jenem seltenen – und vielleicht ja auch
       nur temporären – Bündnis von „Künstlern, die es gewohnt sind, sich
       voneinander abzugrenzen, und Medien, die es gewohnt sind, miteinander im
       Clinch zu liegen“.
       
       Weiterhin dabei: die Bands Trümmer und Rhonda sowie die Singer-Songwriterin
       Lùisa. Fürs gesprochene Wort konnte man neben der NDR-Satirefernsehsendung
       „Extra 3“ auch den vielleicht nicht depressivsten, aber am ehrlichsten dazu
       sich bekennenden Kabarettisten Nico Semsrott gewinnen, ferner eine
       Handvolll jener Freundinnen und Freunde Yücels, mit denen er seinerzeit die
       „Hate Poetry“-Abende bestritt: Da las man all die hasserfüllte
       Wutbürgerpost, die sich allzu oft schlicht am Migrationshintergrund, am
       Nicht-deutsch-genug-Sein von Journalisten entzündet.
       
       Das tat man, um nicht so allein zu sein. Und da schließt sich ein Bogen zum
       Häftling in der Ferne: Auch dessen Alleinsein, seine Isolation soll dieser
       Abend ein klein wenig kleiner machen – dieser und die vielen, die man
       möglicherweise noch ausrichten wird müssen.
       
       14 Jun 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.welt.de/politik/ausland/article165310698/Selbst-im-Knast-gibt-es-so-was-wie-ein-Wochenende.html
   DIR [2] https://www.tagesschau.de/interview-gabriel-105.html
   DIR [3] https://netzwerkrecherche.org/
   DIR [4] /!5407025
   DIR [5] /!5402061/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexander Diehl
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Pressefreiheit
   DIR Schwerpunkt Deniz Yücel
   DIR Hamburg
   DIR Türkei
   DIR Schwerpunkt Pressefreiheit
   DIR Schwerpunkt Deniz Yücel
   DIR taz.gazete
   DIR Schwerpunkt Deniz Yücel
   DIR Journalismus
   DIR Schwerpunkt Deniz Yücel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Gerichtshof zum Fall Deniz Yücel: Türkei soll Stellungnahme abgeben
       
       Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Türkei aufgefordert,
       Stellung zum Fall Yücel zu beziehen. Auch Deutschland könne sich äußern.
       
   DIR Die Vereinten Nationen und Pressefreiheit: Keine Straffreiheit mehr
       
       Als erstes Parlament der Welt fordert der Bundestag einen
       UN-Sonderbeauftragten für Journalisten. Was könnte der ausrichten?
       
   DIR Theodor-Wolff-Preis für Pressefreiheit: Yücel erhält ersten Sonderpreis
       
       Zum ersten Mal wurde in diesem Jahr ein Theodor-Wolff-Sonderpreis im Namen
       der Pressefreiheit vergeben. Mit ihm wurde der inhaftierte Deniz Yücel
       geehrt.
       
   DIR Deniz Yücel: 100 Tage
       
       „Glauben Sie nicht, dass die Haft auf einen Ort beschränkt ist.“ Dilek
       Mayatürk kann ihren Mann Deniz Yücel erst seit kurzem in Haft besuchen.
       Eine Anklage.
       
   DIR Offener Brief an die Bundeskanzlerin: #FreeDeniz
       
       Seit 100 Tagen sitzt Deniz Yücel nun in Haft. Seine Situation hat sich
       nicht verbessert. Zeit also, um mal ganz oben anzuklopfen.
       
   DIR RoG-Chef zum Fall Meşale Tolu: „Eine tragische Empfehlung“
       
       Der Chef von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, hat einen Rat für
       Journalisten mit türkischem Migrationshintergrund: in Deutschland bleiben.
       
   DIR Deniz Yücels Botschaft aus dem Gefängnis: „Niemand kann mich ausliefern“
       
       Der inhaftierte „Welt“-Korrespondent fordert einen rechtsstaatlichen
       Prozess. Die Anschuldigungen gegen ihn seien „abenteuerlich“.