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       # taz.de -- Kunst in Briefen: Wenn der Brief zum Konzept wird
       
       > Das Sprengel-Museum in Hannover nähert sich mit der Ausstellung „Zwischen
       > den Zeilen“ einer intimen Form der künstlerischen Arbeit – dem
       > geschriebenen Wort.
       
   IMG Bild: James Lee Byars: „The Perfect Love Letter is I Write I Love You Backwards in the Air“, 1974.
       
       Hannover taz | Eine experimentelle Tagung der Braunschweiger
       Kunsthochschule befasste sich kürzlich mit dem geschriebenen und dem
       gesprochenen Wort in der bildenden wie postdramatisch darstellenden Kunst
       der Gegenwart. Auch der Topos der Malerei als „stumme Dichtung“ wurde dort
       natürlich bemüht oder Walter Benjamins Sentenz, dass die Rede, also das
       gesprochene Wort, den Gedanken „erobert“, während die Schrift ihn
       „beherrscht“.
       
       Eine besondere und teilweise auch sehr intime Form der künstlerischen
       Arbeit mit dem geschriebenen kommunizierten Wort oder auch der Grafik der
       Buchstaben zeigt derzeit das Sprengel-Museum Hannover. Die Ausstellung
       heißt „Zwischen den Zeilen – Kunst in Briefen von Niki de Saint Phalle bis
       Joseph Beuys“.
       
       Wer aber nun befürchtet, mit gut geputzter Lesebrille kleinsten Formaten
       nachspüren zu müssen, dem sei diese Sorge hier genommen: Es erwarten einen
       in den rund 65 Briefen und Postkarten von 17 KünstlerInnen seit den
       1960er-Jahren durchaus auch veritable druckgrafische und installative
       Dimensionen. Nur am Rande will diese Ausstellung also dem in Zeiten
       digitaler Kommunikationstechniken zunehmend antiquiert erscheinenden
       zentralen Medium früherer Fernkommunikation, dem handschriftlichen Brief,
       eine Reverenz erweisen.
       
       ## Brief als Konzept
       
       Vielmehr geht es in der Ausstellung um ein Zusammenspiel visueller Aussagen
       mit semantischen Botschaften und den Buchstaben, die erst in der
       sinngebenden Kombination ein Ding oder einen Sachverhalt repräsentieren.
       Kurzum: Gezeigt werden komplexe künstlerische Handschriften, die sich an
       einen tatsächlichen oder fiktiven Adressaten wenden, der Brief wird
       Konzept.
       
       Aus den eigenen Beständen steuert das Haus ein Konvolut aus rund 25
       Zeichnungen und Drucken von Niki de Saint Phalle bei. Die Künstlerin
       vermachte dem Sprengel-Museum Hannover zwei Jahre vor ihrem Tod im Jahr
       2002 rund 450 ihrer Werke. Und diese großen Bögen sind in der aktuellen
       Ausstellung die vielleicht anrührendsten, weil persönlichsten Stücke.
       
       ## Enttäuschte Liebe
       
       Niki de Saint Phalle verarbeitet in ihnen etwa ihre Enttäuschungen durch
       viele Trennungen von Liebhabern oder ihrem Ehemann wie künstlerischem
       Weggefährten Jean Tinguely. 1994 bringt sie es, adressiert an ihr Tagebuch,
       auf den Punkt: Immer habe sie Männer gewählt, die meist bewundernswert
       waren, aber alle waren „womanizer“. Sie haben ihr Vertrauen missbraucht wie
       schon ihr eigener Vater, und der Hass habe lange Jahre ihre Kunst gespeist.
       
       Ihre schmerzhaften autobiografischen Reflexionen umrankt Niki de Saint
       Phalle jedoch mit optimistisch bunten Porträts. Sie zeichnet ihre
       Nana-Figuren und symbolische Darstellungen wie Drache, Schlange oder
       Schädel, Baum und Sonne, Liebespaare und Herzen. Diese nur auf den ersten
       Blick spontan anmutenden eruptiven Gefühlsregungen sind natürlich
       sorgfältig konzipierte Grafiken.
       
       Niki de Saint Phalle verwebt Text und assoziative Illustrationen zu
       originellen, künstlerisch autonomen Werken, die auch gesellschaftliche
       Tabus antasten. Neben der weiblichen Verletzlichkeit in patriarchalen
       Gesellschaftsstrukturen ist es etwa die neokonservative Partnertreue der
       1980er-Jahre, als Aids noch als homosexueller Krebs umschrieben wurde und
       medizinisch unbeherrschbar erschien. Oder aus feministisch kämpferischer
       Sicht ist es das Thema Schwangerschaftsabbruch sowie das heftig umstrittene
       Medikament RU 486, die sogenannte Abtreibungspille. Nicht ohne Grund sah
       der französische Kritiker und Künstler Pierre Restany in Niki de Saint
       Phalle eine Wiedergängerinnen von Jeanne d’ Arc und Marie-Antoinette.
       
       Um eine Trennung scheint es auch bei der Französin Sophie Calle zu gehen.
       Ihre Beziehung wurde 2004 per E-Mail aufgekündigt, die mit den Worten „Pass
       auf Dich auf“ schloss. Aber was mag das bedeuten? Calle ging die Sache
       systematisch an und bat 107 Frauen um eine Analyse gemäß den Standards
       ihrer jeweiligen Profession. Die Psychologin ergründet also die seelische
       Konstitution des Mannes, die Schriftstellerin seinen Schreibstil, die
       Juristin seine vertragsrechtliche Situation, die Kriminologin will ihn
       dingfest machen.
       
       Und Calle transkribiert den Text in so absurde Formen wie einen
       Hexadezimalcode, also in ein Zahlensystem der Informatik, in Braille und
       Stenografie. Sie lässt ihn zu übergroßen, vollkommen unpraktikablen
       Formaten anwachsen. Nicht nur diese bloße Größe nährt den Verdacht, dass es
       die E-Mail wohl nie gegeben hat. Die vermeintliche Authentizität einer
       textlichen Kommunikation war für die Konzeptkünstlerin der fiktionale
       Anlass zu einer multimedialen Gesamtinstallation, 2007 im französischen
       Pavillon der 52. Biennale von Venedig inszeniert.
       
       ## Verhinderte Lektüre
       
       Der Spanierin Elena del Rivero wiederum geht es nicht mehr um die
       Lesbarkeit ihrer Briefe an die Mutter. Der Inhalt beschränkt sich ohnehin
       auf das blockhaft in die Reiseschreibmaschine gehämmerte „No“. Die leicht
       variierenden Blätter ihrer Serie werden mit Handstichen zu wiederum großen
       Formaten vernäht, die eine Lektüre verhindern. Elena del Rivero will so die
       Unmöglichkeit der Kommunikation darstellen – zumindest exemplarisch
       zwischen Mutter und Tochter.
       
       Handelsübliche Postformate steuern Dieter Roth und Joseph Beuys bei. Roth
       überzieht etwa eine bunte Ansichtskarte aus Reykjavik mit Schokolade, Farbe
       und eher unappetitlichem Material. Beuys überführt die Postkarte in braunen
       Filz, in ein mit Schwefel beschichtetes Stahlblech oder einen massiven
       Holzblock. Jenseits postalischer Tauglichkeit verbreiten all diese
       Kommunikationsmedien ihre Anliegen auf eine ganz eigene Art – mit oder ganz
       ohne Wort.
       
       1 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Maria Brosowsky
       
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