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       # taz.de -- Krise in Brasilien: Im Labyrinth der Politik
       
       > Am Dienstag entscheidet das oberste Wahlgericht Brasiliens, ob Präsident
       > Temer im Amt bleibt. Dahinter steckt eine beispiellose Korruptionsaffäre.
       
   IMG Bild: Bleibt Michel Temer Präsident von Brasilien?
       
       BERLIN taz | In der tiefsten politischen und ökonomischen Krise seiner
       jüngeren Geschichte richtet sich der Stolz der Nation in Brasilien an
       seltsamen Dingen auf: Netflix erklärte per Twitter, dass seine Serie „House
       of Cards“ nicht mit der brasilianischen Wirklichkeit konkurrieren könne –
       nicht einmal, wenn man 20 Drehbuchautoren verpflichte.
       
       Wie der durchtriebene Frank Underwood der Fernsehserie ist auch der
       amtierende Präsident Michel Temer durch ein äußerst umstrittenes
       Impeachmentverfahren in sein Amt gekommen. Und nach einem Jahr
       Regierungszeit wackelt nun auch sein Stuhl. Die Besitzer der größten
       Schlachthauskette der Welt (JBS Friboi), die Brüder Batista, haben eine
       Unterhaltung mit Temer mitgeschnitten, bei der er sie anscheinend ermutigt,
       das Schweigen eines inhaftierten Politikers durch Geldzahlungen zu sichern.
       
       Temers Tage scheinen nun gezählt, aber der schwer angeschlagene Präsident
       hält sich verzweifelt am Amt fest, denn er hat einiges zu verlieren. Das
       Amt garantiert ihm Immunität und allgemein wird angenommen, dass Temer gute
       Chancen hat, nach Ende der Amtszeit seine politische Karriere im Gefängnis
       zu beenden. Seit auch der mächtige Fernsehsender Globo offen das Ende
       Temers als Präsident fordert, ist sein Überleben bis zum regulären
       Wahltermin im Oktober 2018 mehr als fraglich. Am 6. Juni soll nun das
       oberste Wahlgericht eine Entscheidung treffen, die Temer aus dem Amt hebeln
       könnte: Es muss über den Antrag befinden, die Präsidentschaftswahl – und
       damit auch die Wahl des ehemaligen Vizepräsidenten Temer – wegen illegaler
       Wahlkampffinanzierung für ungültig zu erklären. Ein solche Entscheidung
       gilt sogar noch als eine Art „ehrenvoller Abgang“ für Temer, weil die
       Hauptschuld auf die damalige Präsidentschaftskandidatin Dilma Rousseff und
       ihre Arbeiterpartei fallen würde.
       
       Aber erstmal zurück zu einer kurzen Chronologie der Ereignisse: 2003 tritt
       Luiz Inácio Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei (PT) mit großen
       Hoffnungen die Präsidentschaft an. Nach einer Wiederwahl und bedeutenden
       sozialen Erfolgen verlässt er 2010 mit hohen Zustimmungsraten das Amt und
       trägt entscheidend dazu bei, dass Dilma Rousseff zu seiner Nachfolgerin
       gewählt wird. Ihr gelingt 2014 noch die knappe Wiederwahl, aber im April
       2016 wird sie durch ein Impeachmentverfahren ihres Amtes enthoben und ihr
       Vize Temer – einer Partei des damaligen Regierungsbündnisses zugehörig –
       übernimmt das Amt.
       
       ## „Lava Jato“, Autowäsche, lautet der Name der Ermittlungen
       
       In dem politischen Labyrinth Brasiliens der letzten Jahre gibt es keine
       leichte Orientierung. Unbestritten ist, dass die Korruptionsermittlungen
       der brasilianischen Justiz und der Bundespolizei zu einem entscheidenden
       und neuen Faktor in der brasilianischen Politik geworden sind. „Lava Jato“
       – wörtlich Hochdruckreiniger, in Brasilien ein Synonym für Autowäsche – ist
       der Name für die inzwischen fast unüberschaubar gewordenen Ermittlungen.
       
       Brasiliens Linke sieht darin politischen Missbrauch und kritisiert deswegen
       insbesondere den exponierten Richter Moro: Es werde einseitig die PT und
       ihre Bündnispartner verfolgt. Lava Jato hatte aber auch von Anfang an die
       mit dem politischen System verbundenen Unternehmen im Visier. Eine
       staunende Öffentlichkeit konnte der Verhaftung der reichsten und
       mächtigsten Männer des Landes zuschauen. So sitzen die Eigentümer des
       international agierenden Baukonzerns Odebrecht genauso im Gefängnis wie der
       ehemals reichste Mann des Landes, Eike Batista, der wegen seiner deutschen
       Abstammung auch hierzulande als aufstrebender Unternehmer gefeiert worden
       war.
       
       Nur das politisch wichtigste Ereignis der letzten Jahre, der Sturz der
       gewählten Präsidentin Dilma Rousseff, hatte nichts mit den Ermittlungen von
       Lava Jato zu tun: Ihr wurden Manipulationen des Haushalts vorgeworfen –
       zweifelhafte technische Manöver, bei denen sich niemand bereicherte. Aber
       Lavo Jato ermöglichte das Amtsenthebungsverfahren: Es schuf das politische
       Umfeld und forcierte den Vertrauens- und Legitimationsverlust der
       Regierung.
       
       Mit der Amtsübernahme Temers kehrte keine Ruhe ein, sondern bald wurde die
       Absurdität des Verfahrens selbst für die deutlich, die für die
       Amtsenthebung Dilmas auf die Straße gegangen waren: eine durch und durch
       korrupte politische Klasse hat sich einer ungeliebten Präsidentin entledigt
       und damit eine noch mehr durch Korruptionsvorwürfe belastete Regierung ins
       Amt gebracht. in Minister und Berater nach dem anderen musste durch ständig
       neue Enthüllungen den Dienst quittieren.
       
       ## Eine unbequeme linke Regierung wurde gestürzt
       
       Lavo Jato hat sich zu einer stetig anwachsenden und mit neuen Enthüllungen
       aufwartenden Lawine entwickelt, die das gesamte politische und ökonomische
       System Brasiliens trifft. Die vorläufige Bilanz ist verwirrend: Politiker
       und Unternehmer, die wegen Korruption und illegaler Parteispenden
       beschuldigt werden und dieses Vergehen auch zum großen Teil gestanden
       haben, sitzen im Gefängnis. Eine unerhörte Tatsache in einem Land, in dem
       die Straflosigkeit – „impunidade“ – für die Eliten immer ein Schlüsselwort
       der politischen Debatten war. Zum anderen hat Lava Jato aber auch dazu
       geführt, dass eine unbequeme linke Regierung durch die korruptesten Teile
       der brasilianischen Elite gestürzt wurde.
       
       Es wäre falsch, die aktuelle Lage nur als Chaos zu sehen. Temer hat sich in
       seinem ersten Regierungsjahr keineswegs als „lahme Ente“ gezeigt, sondern
       neoliberale Reformen begonnen, eine strikte Austeritätspoltik durchgesetzt
       und Umweltpolitik sowie den Schutz indigener Völker weiter marginalisiert.
       Für eine demokratisches System ist dies ein fatale Konstellation: Eine
       nicht gewählte, unpopuläre Regierung will mit Hilfe eines diskreditierten
       Parlaments weitreichende Reformen des Rentensystems und des Arbeitsrechts
       durchziehen.
       
       Genau dieses Szenario ist aber nun durch die jüngsten Enthüllungen der
       Schlachthausbrüder unwahrscheinlich geworden. Globo und andere bisherige
       Unterstützer Temers trauen ihm nun nicht mehr zu, diese „Reformen“
       durchzusetzen.
       
       Der Politikwissenschaftler Carlos Melo vergleicht die Situation Brasiliens
       mit einem Labyrinth, in dem der unbesiegte Minotaurus – das durch und durch
       korrupte politische System – allgegenwärtig bleibt. Und weder ist ein Faden
       der Ariadne noch ein moderner Theseus in Sicht. Aber die Linke Brasiliens –
       oder zumindest große Teile derselben – hat nun doch ein bisschen Hoffnung:
       Sie vereinigt sich wieder unter der Forderung nach sofortigen Direktwahlen.
       Und Ex-Präsident Lula liegt in allen Umfragen vorne.
       
       Die durch Lava Jato verfestigte Gewissheit, das gesamte politische System
       sei korrupt, stärkt kurioserweise den Expräsidenten und seine
       Arbeiterpartei. Dient Korruption nicht mehr als Unterscheidungsmerkmal,
       bleibt das Votum für einen Präsidenten, der immerhin in der Sozialpolitik
       und bei der Armutsbekämpfung einiges geleistet hat. Und selbst für viele
       PT-kritische Linke scheint nun die Perspektive Lula zumindest eine
       erträgliche Zwischenlösung zu sein. Über die Zukunft nach der Krise
       nachzudenken, dafür ist es wohl noch zu früh.
       
       4 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Fatheuer
       
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