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       # taz.de -- In memoriam Juan Goytisolo: Das Schnarchen des Satrapen …
       
       > … und andere Seltsamkeiten. Ein Text des linken spanischen
       > Schriftstellers Juan Goytisolo, der am Sonntag im Alter von 86 Jahren
       > verstorben ist.
       
   IMG Bild: Juan Goytisolo im Jahr 2015, kurz bevor ihm der Cervantes-Preis verliehen wurde
       
       ## Der Eine, der Einzige
       
       Bei den Präsidentschaftswahlen, deren Durchführung meinen
       Sicherheitsdiensten obliegt und bei denen ich regelmäßig mit 99,99 Prozent
       der Stimmen im Amt bestätigt werde, überzeugte mich die geringe Anzahl der
       Gegner – ein paar Dutzend unter mehr als zehn Millionen Wählern – eben
       wegen ihrer Bedeutungslosigkeit immer vom durchschlagenden Erfolg meiner
       Amtsführung. An einem fernen, von der Vorsehung bestimmten Tag ernannte
       eine bewaffnete Bewegung mich zum Staatsoberhaupt und setzte dem Theater
       korrupter Politchargen, die vor einem empörten, spottenden Publikum wie
       Marionetten tanzten, ein Ende.
       
       Seither ging alles seinen geordneten Gang: Wahlen wurden ausgeschrieben,
       Kampagnen für die Jastimme organisiert – Stadt für Stadt, Viertel für
       Viertel, Haus für Haus. Bewerber wurden zur Gegenkandidatur aufgefordert,
       die sich aus Furcht vor einer schmählichen Niederlage und ihren
       unabsehbaren Konsequenzen nicht trauten. Die beschämenden öffentlichen
       Ausflüchte dieser Möchtegerne hielten die Übrigen davon ab, ihrem Beispiel
       zu folgen und in einem lächerlichen wie fruchtlosen Kampf Federn zu lassen.
       Doch bei den letzten Wahlen war alles anders. Es gab keine Gegenkandidaten,
       und die Stimmenauszählung, deren ordnungsgemäßer Ablauf von zahlreichen
       internationalen Beobachtern bestätigt wurde, brachte ein erstaunliches
       Ergebnis zutage: eine einzige Neinstimme.
       
       Nach der Euphorie der offiziellen Feierlichkeiten, den Glückwunschadressen
       anderer Staatsoberhäupter und spontanen Volksfesten im ganzen Land war ich
       über dieses Resultat jedoch keineswegs erleichtert, es irritierte mich.
       Eine Handvoll Verbitterter, die sich den sozialen Errungenschaften unter
       meiner Amtsführung verweigerten, gehörte dazu: Sie standen nur und
       ausschließlich für sich selbst und offenbarten so ihre bedauernswerte
       Blindheit und ihren Unverstand. Doch diese einsame, eigensinnige Stimme,
       die wider alle Vernunft gegen meine fürsorgliche Regierung opponierte, war
       für mich Hinweis auf eine unbekannte Gefahr, eine latente Bedrohung, die
       jeden Augenblick real werden konnte.
       
       ## Wer war dieser rätselhafte Gegner?
       
       Die Frage quälte mich und raubte mir den Schlaf. Ich mobilisierte die
       Nachrichtendienste, um ihm auf die Spur zu kommen und ihn zu
       identifizieren. Das Wählerverzeichnis des Bezirks, wo seine Stimme
       abgegeben wurde, musste überprüft, eine Liste von Verdächtigen angefertigt,
       das Filmmaterial der Mikrokameras, die am fraglichen Tag im Einsatz waren,
       durchgesehen werden. Monatelang zogen sich die Ermittlungen hin,
       ergebnislos. Keiner der bei den nächtlichen Razzien Festgenommenen bekannte
       sich schuldig.
       
       Sollte ich die Verhafteten foltern lassen, wie der Chef der Kriminalpolizei
       mir anriet? Nach Abwägung aller Für und Wider kam ich zu dem Schluss, dass
       es vergeblich wäre. Am Ende würden die Unschuldigen gestehen, und er, der
       unerbittliche Gegner meines Werks, hätte nichts preisgegeben. Im Gegenteil,
       er würde nur noch entschlossener sein Ziel verfolgen: mich zu erledigen, ja
       zu vernichten.
       
       Ich versammelte meine Berater und Kabinettsmitglieder und erörterte den
       Fall. Die Vorschläge, die auf den Tisch kamen – individuelle Strafen ersten
       bis dritten Grades, Eliminierung aller Wahlberechtigten des betreffenden
       Bezirks –, schienen mir untauglich, und ich lehnte sie ab. Dunkel ahnte
       ich, dass ich eine Schlacht schlug, die längst verloren war. Dieser
       erbitterte Gegner würde mich überleben. Ich durchlitt Wochen der Angst,
       verfolgt von einer fixen Idee: Präzise wie ein Uhrwerk plante jemand eine
       Verschwörung, die für immer im Dunkeln blieb. In einer meiner geplagten
       Nächte hatte ich einen ahnungsvollen Traum: Ich sah mich selbst im
       Wahllokal, wie ich den verfluchten Zettel einwarf. Als ich aufwachte, nahm
       ich, ohne irgendwen in Kenntnis zu setzen, mein Geständnis auf Video auf,
       in der ruhigen Gewissheit, auf der Stelle hingerichtet zu werden und für
       immer in Frieden zu ruhen.
       
       ## Elegante Schnittvorlage
       
       Ich bin die fünf Sinne des Präsidenten! Ich beobachte mit seinen Augen, was
       immer geschieht, höre, was man im Viertel munkelt, wittere die kleinste
       Unzufriedenheit, schmecke die süße Verlockung der Macht, streichle sein
       Bild auf der Medaille an meinem Revers. Mein Dienst für die Sache kennt
       keinen Stundenplan, nicht einmal im Schlaf. Wie oft habe ich schon von
       einer Verschwörung seiner Widersacher geträumt, niedergeschlagen durch
       meinen raschen und energischen Einsatz!
       
       Telefonüberwachung, Videoaufnahmen und sonstige geheime Maßnahmen knüpfen
       ein dichtes Sicherheitsnetz und erlauben mir, ihn allezeit präzise zu
       informieren. Täglich gehen meine Berichte in den Palast und sind Balsam für
       seine ruhelose Seele. Wenn ich nur seine gütige Miene sehe, seine
       ermutigenden Blicke auf meine bescheidene Person! Nicht von Angesicht zu
       Angesicht, niemals, sondern auf den offiziellen Porträts an den Wänden
       meines Büros.
       
       Während ich die Vertrauenskundgebungen für seine Regierung organisiere oder
       die Listen der Drückeberger anfertige, betrachte ich sein Bild: im
       Gesellschaftsanzug, Chemisette und Fliege makellos, eine rote Schärpe quer
       über der Brust; mit der prachtvollen Kette eines Würdenträgers oder Doktors
       honoris causa von Universitäten aus der halben Welt; auf einem Sessel aus
       granatrotem Samt mit vergoldeter Lehne. Bei meiner Lektüre von Anzeigen und
       vertraulichen Hinweisen hebe ich die Augen, um neue Kraft zu schöpfen in
       seinem Anblick: mit erhobenem Arm, gehüllt in die Fahne des Vaterlands,
       oder im Profil, zwei Kinder in einen wolkenlosen Himmel gereckt; mit
       tadellos gestärktem Hemdkragen, bordeauxroten oder karierten Krawatten,
       Jacketts in Grau, Beige oder Marineblau, einem Seidentüchlein, das aus der
       Brusttasche des Anzugs hervorspitzt; mit seiner Frisur, stets akkurat
       gescheitelt, ohne ein einziges weißes oder widerspenstiges Haar. All das
       stimuliert mich und erfüllt mich mit Glück! Manchmal glaube ich, ein mir
       persönlich zugedachtes Lächeln zu erhaschen. Andere Male ist es ein
       kleines, komplizenhaftes Zwinkern von diskreter Zärtlichkeit. Ich bin
       Garant seines wohlverdienten Vermögens und leiste mit meinem Bienenfleiß
       einen Beitrag zur Festigung seiner gottgesandten Herrschaft.
       
       ## Das Grundrecht der Pressefreiheit
       
       Bei der Audienz des Provinzsatrapen erklärte sich der örtliche
       Zeitungsschreiber untertänigst zum Idioten: Mein Berufsethos verpflichtet
       mich dazu, sagte er, nur ein Dummkopf wie ich konnte, ohne irgendwelche
       Hintergedanken, das schwöre ich, diesen unseligen Satz schreiben, der
       aufgrund seiner fehlerhaften Interpunktion, seiner Amphibolien (sprachliche
       Doppeldeutigkeiten) und Solözismen (grobe Sprachfehler) dazu angetan war,
       Ihren fürsorglichen Umgang mit der Res publica in Zweifel zu ziehen.
       Tausend Tode hätte ich verdient, das weiß ich wohl, doch wenn mir eine
       Verfehlung vorzuwerfen ist, dann geben Euer Exzellenz meinem Unvermögen die
       Schuld, meiner ungenügenden grammatischen Bildung, der notorischen
       Unbeholfenheit und Gedankenlosigkeit meiner Texte. Und nach erfolgter
       Palinodie (Widerruf), ermuntert durch das Schnarchen des Satrapen, nahm er
       den Hut, griff nach dem Schwert, zog von dannen, und nichts war passiert.1
       
       ## Kühne Vorschläge für das neue Jahrtausend
       
       1. Unser soziales Angebot: Gratisausgabe von lösungsmittelgetränkten
       Taschentüchern an die arbeitslose Bevölkerung. Die Einschreibung in die
       Listen der Leistungsempfänger soll obligatorisch sein, damit die
       Bezugsberechtigten monatlich ein neues Tuch erhalten, dazu ein
       entsprechendes Fläschchen mit dem Siegel des Staatlichen Solidarfonds,
       dessen Einrichtung bei der letzten Kabinettssitzung auf Anregung des
       Demokratischen Volksblocks beschlossen wurde.
       
       2. Forschungsinstitute mit dem Schwerpunkt vergleichende Genetik von
       Cheloniden haben mit unserer Revolutionären Fortschrittspartei ein
       bemerkenswertes Projekt zur Senkung der öffentlichen Ausgaben vereinbart,
       um der Verschwendung von Steuergeldern und der weiteren Belastung von
       Unternehmen, die Wachstum und Arbeitsplätze schaffen, einen Riegel
       vorzuschieben. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Verhalten der
       Schildkröten während ihrer Winterschlafphasen werden uns noch in der
       laufenden Legislaturperiode bestimmte, auf die Bevölkerung übertragbare
       Techniken an die Hand geben, die es den bedürftigen und unproduktiven
       Gesellschaftsschichten in einem Pilotversuch ermöglichen, auf ein Angebot
       von unbestreitbarem Nutzen zurückzugreifen: in eine Art Langzeithibernation
       zu sinken, die sie für Monate von der bitteren Notwendigkeit befreit, ihren
       Lebensunterhalt zu verdienen, verbunden mit einer erheblichen Ersparnis an
       Kosten und menschlichem Leid. Die Errichtung bequemer Schlafhallen für die
       Teilnehmer würde das konjunkturfeindliche Haushaltsdefizit spürbar
       reduzieren und unseren Unternehmen beim allgemeinen Gerangel um Einfluss
       und Macht im Globalen Dorf einen deutlichen Wettbewerbsvorsprung
       verschaffen.
       
       ## Vertrauen Sie uns Ihre Ersparnisse an
       
       Wir werden sie in unseren sorgenfreien Steuerparadiesen zinsbringend
       anlegen, und sind alle Spuren von Strohmännern und Briefkastenfirmen erst
       verwischt und verweht, erhalten Sie ein wunderschönes Paar Hörner mit einem
       persönlichen Motiv als Zeichen unseres Danks für Ihr unschätzbares
       Vertrauen und Engagement.
       
       ## Der Tourismus wird euch frei machen
       
       An der Rezeption erhielt er eine zweisprachige Broschüre mit
       Sicherheitshinweisen für ausländische Gäste, die sich in die Hauptstadt
       wagen.
       
       „Tauschen Sie Ihre Devisen am Bankschalter des Hotels und tragen Sie auf
       der Straße nur das Allernötigste bei sich.
       
       Deponieren Sie Wertsachen und Kreditkarten im Gästesafe, lassen Sie nichts
       im Zimmer liegen.
       
       Verriegeln Sie die Zimmertür zweimal und öffnen Sie niemandem, der seinen
       Besuch nicht vorher angekündigt hat.
       
       Nehmen Sie das Taxi, das der Portier für Sie ruft, und nennen Sie ihm den
       Bestimmungsort, damit er ihn zusammen mit dem Kennzeichen des Wagens im
       Gästebuch vermerkt.
       
       Teilen Sie über Mobiltelefon mit, wenn Sie etwas Auffälliges im Verhalten
       des Fahrers bemerken, und folgen Sie den Anweisungen des Hotelpersonals.“
       
       Er sah sich schon auf dem Weg zu einem Waffengeschäft, beim Kauf einer
       Grundausstattung zur Selbstverteidigung: K.-o.-Spray, Schlagring,
       Pfadfindermesser. So könnte er sich im Taxi sicher fühlen. Dann aber dachte
       er, dass es bestimmt einfacher wäre, sich ein Auto zu leihen und auf eigene
       Faust die Stadt zu erkunden: Denkmäler, Restaurants, Museen. Die zweite
       Seite der Broschüre belehrte ihn eines Besseren.
       
       „Seien Sie auf der Hut. Zwei Tricks sind in der Stadt sehr verbreitet: An
       der Ampel wird ein Motorrad, Fahrrad oder Karren unter das Auto des
       Ausländers geschoben, worauf man den verblüfften Fahrer eines
       Verkehrsunfalls beschuldigt: Menschenauflauf, Schreie, Tumult. Oder es
       werden Bußgelder verhängt wegen nicht begangener Verkehrsdelikte, verbunden
       mit der Drohung, ein paar Stunden auf dem örtlichen Revier zu verbringen.“
       
       Dann dachte er, es sei klüger, diesen furchtbaren Ort ganz zu meiden und
       die Schönheit der Landschaft zu genießen. Eine Option, die gleichwohl,
       glaubte man den Ratschlägen der Broschüre, riskant sein konnte.
       
       „Die Landstraßen sind sehr gefährlich: die guten wegen der unachtsamen und
       draufgängerischen Fahrweise vieler Verkehrsteilnehmer, die schlechten wegen
       ihres kurvenreichen Verlaufs und der fehlenden Markierung. Abzuraten ist
       insbesondere von Fahrten bei Dunkelheit, da es vorkommt, dass die
       Schnellstraße blockiert, das Auto zum Anhalten gezwungen und der Fahrer
       überfallen wird. Vor allem nehmen Sie weder Anhalter noch angebliche
       Freunde mit. In der Regel haben sie Drogen bei sich, und ein paar Kilometer
       weiter gerät man „zufällig“ in eine Polizeikontrolle: die Erpressung mit
       Strafverfahren und Gefängnis folgt auf dem Fuße.“
       
       Was zum Teufel konnte er tun während seines Aufenthalts? Essen, trinken, in
       der Nähe des Hotels spazieren gehen? Auch nicht. Die Hinweise waren
       eindeutig:
       
       „Seien Sie vorsichtig mit Essen und Trinken. Waschen Sie Obst, Salat und
       Gemüse gut ab. Bestellen Sie nur Wasser in Flaschen mit Originalverschluss.
       Besonders gut aufpassen sollten Sie an Straßenständen mit landestypischen
       Gerichten und bei flüchtigen Bekanntschaften. Achten Sie peinlich auf
       Hygiene. Aids, Malaria und Geschlechtskrankheiten sind allgegenwärtig.“
       
       Er fand sich damit ab, bei verriegelter Tür im Hotelzimmer zu bleiben. Am
       liebsten wäre er auf der Stelle abgereist, doch sein Flugticket war nicht
       umbuchbar. Eine ganze Woche in dieser Hölle, angepriesen von wundervollen
       Plakaten und einer verführerischen, betrügerischen Website!
       
       Fußnote: 1 Zitat aus „Don Quijote“ von Miguel de Cervantes 
       
       Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
       
       6 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juan Goytisolo
       
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