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       # taz.de -- Ehrenamt im Krankenhaus: Frau Lenz hört zu
       
       > Mit Patienten sprechen – Ärzte und Pflegende haben dafür meist keine
       > Zeit. Fast 10.000 Ehrenamtliche haben es nicht so eilig.
       
   IMG Bild: Astrid Lenz im Aufenthaltsraum der Grünen Damen und Herren im Berliner Charite Klinikum Virchow
       
       Berlin taz | Als Astrid Lenz den Spender drückt, riecht es scharf nach
       Desinfektionslösung. Heute stehen auf der Station der Virchow-Klinik für
       Mund-, Kiefer-, und Gesichtschirurgie große Operationen an. Lenz weiß, dass
       Menschen, die auf eine Operation warten oder die entlassen werden, oft
       keinen großen Redebedarf haben. Bei Kranken mit schlechten Prognosen ist
       das auch oft so. „Man muss spüren, ob da was ist“, sagt Lenz. Dienstags
       stehen große Tumoroperationen an, dazu kommen plastische Operationen, um
       Gesichter nach medizinischen Eingriffen oder schweren Unfällen
       wiederherzustellen. Die Station 4 kann auch für eine Grüne Dame immer noch
       belastend sein.
       
       „Guten Tag, mein Name ist Lenz, ich bin vom Ehrenamtlichen Besuchsdienst
       und habe Zeit für Sie. Brauchen Sie etwas?“ – „Danke!“ In einem Zimmer mit
       drei Patienten lehnt ein Mann, Anfang 60, zunächst ab. „Meine Frau kommt
       heute noch“, schiebt er nach. Er liegt in Trainingshose auf dem Bett, die
       gestreifte Krankenhausdecke um die Beine gelegt. Lenz’ Blick sucht, dann
       lobt sie die frischen Blumen auf dem Nachttisch und wünscht alles Gute für
       die Zeit im Krankenhaus.
       
       Plötzlich sprudelt es doch aus ihm heraus. Die Operation gestern habe er
       gut überstanden. Seine Frau war auch schon einmal im Virchow-Klinikum auf
       der Station 4. Ein alter Schulfreund komme später auch. Es scheint, als
       wolle er gar nicht mehr aufhören zu reden. Der junge Mann auf dem Bett
       nebenan spielt mit seinem Smartphone. Er wurde heute operiert, das Sprechen
       fällt ihm noch schwer. Er bedankt sich für das Redeangebot, aber Chatten
       sei in seinem Zustand einfach leichter, gibt er zu verstehen. Der dritte
       Patient schläft.
       
       Astrid Lenz wird in den Zimmern meist offen empfangen. Eine Abfuhr ist
       selten. Aber Lenz versteht, wenn Menschen in Krisen kein Interesse am
       Besuchsdienst haben. „Ich weiß selbst nicht, ob ich so wild darauf wäre.“
       Diagnosen sind ihr in der Regel nicht bekannt, sagt sie. Und dass sie froh
       darüber sei. „Wenn man nichts weiß, finde ich das einfacher.“ Astrid Lenz
       hört von den Kranken viel über private Nöte zu Hause. Ein Angehöriger etwa,
       der jetzt allein zu Hause bleiben oder eine Katze, die nun von Fremden
       versorgt werden muss, solche Geschichten sind es, sagt Lenz. „Die Krankheit
       steht gar nicht so im Vordergrund“.
       
       Kein Therapieersatz 
       
       Auf der Station 4 gibt es auch Patienten, die bei Überfällen und häuslicher
       Gewalt schwer verletzt wurden. Lenz hat für solche Patienten auch schon
       beim Opferhilfeverein Weißer Ring angerufen und um zusätzliche Hilfe für
       die Patienten gebeten. Manchmal sind Justizbeamte mit im Zimmer, weil ein
       Häftling aus der JVA Tegel behandelt wird. Lenz erinnert sich, wie sie den
       Beamten neben dem Bett fragte, ob sie auch mit diesem Patienten sprechen
       darf. Er erlaubte es. Der mit Fußfesseln fixierte Häftling wollte reden.
       
       „Jetzt lieg’ ich hier und der Mensch“, er deutete auf den Beamten, „redet
       überhaupt nicht mit mir.“ Das habe sie noch beschäftigt, als der Tag im
       Krankenhaus längst zu Ende war, sagt Lenz. „Ich mach das alles mit mir
       selber aus.“ Wenn das aber nicht klappt ist im Gruppenraum immer eine
       andere Grüne Dame zum Reden da. Außerdem gibt es regelmäßig Treffen mit
       Seelsorgern der Klinik. „Man muss als Grüne Dame mit beiden Beinen fest im
       Leben stehen“, sagt Lenz.
       
       So ein Dienst im Krankenhaus sei kein Therapieersatz. „Man sollte nicht
       kommen, um etwas zu verarbeiten.“ Die Planerinnen, die die Schichten
       einteilen, fragen Interessierte vorher immer, ob es aktuell einen
       Trauerfall in der Familie gebe. Es gehe beim Besuchsdienst nicht darum,
       etwa eigene Versäumnisse in der Krankenpflege aufzuarbeiten. Diese Arbeit
       ist für Lenz dennoch „keine Einbahnstraße“: Positive Eindrücke,
       Dankbarkeit, kommen für sie zurück. Sie habe viel von Menschen gelernt,
       sagt Lenz. Wie manche mit ihrem Schicksal umgehen, beeindruckt sie.
       
       Ein halber Tag für fremde Menschen 
       
       Lenz, längst Rentnerin, hat zwei erwachsene Kinder, der Sohn lebt mit
       seiner Familie in der Schweiz. Enkelbesuche haben Vorrang vor dem Ehrenamt.
       Sie habe auch so genug zu tun, sagt sie, aber „diesen einen Vormittag setze
       ich ganz bewusst für fremde Menschen ein“. Lenz wirkt jünger als 74. Sie
       ist kaum geschminkt, die grauen Haare trägt sie kurz. Ihre Füße stecken in
       Sneakern. Bequeme Schuhe für die langen Flure im Krankenhaus. Im Sitzen
       stützt sie das Kinn auf gepflegte Hände, setzt eine Brille auf, wenn sie
       sich in den Dienstbüchern über das Geschehen auf der Station 4 informiert.
       
       In den Büchern sind auch Wünsche von Patienten und Patientinnen vermerkt,
       natürlich ohne Namen. Da steht dann: „Bringt für die Patientin am Fenster
       in Zimmer 12 eine Zeitung mit.“ Astrid Lenz ist fast von Anfang an als
       Grüne Dame in Berlin dabei. 1994 sah sie eine Anzeige in der Zeitung.
       Ehrenamtliche Grüne Damen, aber auch Herren, wurden für das
       Virchow-Klinikum gesucht. Lenz arbeitete damals nicht mehr in Vollzeit als
       Chemotechnikerin, nach der Arbeit im Labor hatte sie Lust auf ein soziales
       Ehrenamt. „Dass ich das kann, wusste ich.“ Lenz hat zwei Freundinnen bis
       zum Tod begleitet.
       
       Die erste Berliner Gruppe hatte ihre Arbeit erst ein halbes Jahr vorher
       aufgenommen. Damals wurden nur die Onkologie und die Dermatologie vom
       Besuchsdienst betreut. Heute besuchen die Ehrenamtlichen dienstags und
       donnerstags 18 Stationen auf dem Campus Virchow. Hier entstand der erste
       Besuchsdienstes, heute besuchen Freiwillige Patienten in acht Berliner
       Krankenhäusern. In den Anfangszeiten halfen den beiden Gründungsdamen ihre
       persönliche Kontakte zu Ärzten. Es gab Professoren, die den Besuchsdienst
       unbedingt auf ihren Stationen wollten.
       
       Auch Grüne Herren sind dabei 
       
       Die Belegschaft war durch die Ehrenamtlichen verunsichert, hatte damals
       sogar Angst um ihre Arbeitsplätze. Heute sind die Grünen Damen und Herren
       nicht mehr wegzudenken. Schwester Nadine sieht in den Ehrenamtlichen eine
       Ergänzung zur medizinischen Krankenhausbetreuung, sagt sie. Die 34-jährige
       arbeitet seit 2006 in der Klinik für Mund-, Kiefer,- und Gesichtschirurgie
       mit den Freiwilligen.
       
       Inzwischen gibt es auf dem Campus Virchow auch Grüne Herren. Fürsorge war
       in Lenz’ Generation oft Frauensache. In der Gruppe ändert sich dies. Lenz
       ist wichtig, dass sie ohne Zeitdruck mit den Patienten arbeiten kann. Sie
       kommt einmal die Woche für einen halben Tag in die Klinik, spricht mit den
       Kranken über ihre Krankheit oder Privates. Schwestern und Pfleger haben
       diese Freiheit nicht. Den Patienten könnten sie im Klinikalltag oft gar
       nicht „wertfrei“ oder „neutral“ begegnen, findet Lenz.
       
       Sie versucht die Patienten auch untereinander ins Gespräch zu bringen.
       „Katalysator“ sein, nennt sie das – ihr beruflicher Hintergrund als
       Chemielaborantin klingt durch. Wenn sie damit Erfolg hat, denkt Lenz:
       „Prima, die brauchen mich gar nicht mehr, die reden jetzt miteinander.“
       Lenz war auch schon bei Veranstaltungen von Ärzten, Pflegern und
       Schwestern. Sie „schmort nicht gern im eigenen Saft“, sagt sie. Mit diesem
       Wissen kann sie dann Patienten versichern, dass die von ihnen oft nur als
       „weiße Wolke“ wahrgenommene Chefarztvisite nicht aus herzlosen Technokraten
       besteht.
       
       Wenn der Patient entlassen ist, ist die Arbeit für die Grüne Dame zu Ende.
       Aber es bleibt für Lenz Unerledigtes zurück. Sie hat viel über den Menschen
       erfahren, über Sorgen gesprochen und kann jetzt als Ehrenamtliche nichts
       weiter für ihn tun. „Ich musste lernen damit umzugehen, dass ich nicht
       alles regeln kann.“ Lenz ist dennoch zufrieden damit, was sie an ihrem
       halben Tag leistet.
       
       Junge Menschen erwünscht 
       
       „Ich hab' den Oma-Bonus“, sagt sie. Ab 18 darf man beim Besuchsdienst
       mitmachen, aber die meisten Grünen Damen und Herren sind um die 60. Ein
       junger Mensch bringe „eine ganz besondere Fröhlichkeit mit ins
       Krankenzimmer“, sagt Lenz. „Da kann man dann auch mal nur übers Wetter
       reden und nicht gleich über Krankheit“.
       
       An jedem Dienstag um 9 Uhr im Gruppenraum der Grünen Damen und Herren auf
       dem Campus Virchow beginnt für Astrid Lenz die Arbeit. Für die gebürtige
       Berlinerin heißt das: Eine Stunde Anfahrt mit der S-Bahn aus Oranienburg.
       „Um diesen Dienstag strick’ ich nicht alles“. Ihr Ehemann ist es gewohnt,
       dass Frau Lenz Interessen hat, die er nicht teilt. Das Ehrenamt wird
       toleriert, solange es den Familienurlaub bei den Enkeln nicht stört.
       
       Sie rücken die Tische im Gruppenraum zusammen, 34 Grüne Damen und Herren
       haben Platz. Wer kommen möchte, trägt sich in eine Liste am Schwarzen Brett
       ein. Einige Namen stehen schon drauf, jemand bringt Kuchen mit. Über dem
       Einsatzplan hängt ein Kreuz, der Besuchsdienst gehört zur evangelischen
       Pflegeverein, kümmert sich aber um alle Kranken. Vor einiger Zeit bat ein
       Patient Lenz, mit ihm zu beten. Sie ist keine praktizierende Christin, aber
       ein schlichtes Gebet ist ihr gelungen, der Patient war glücklich.
       
       Gegen Mittag ist ihr Dienst zu Ende. Zurück im Gruppenraum kann sie nach
       vier Stunden und acht Krankenzimmern „Keine Besonderheiten“ notieren.
       
       18 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Natalie Stöterau
       
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