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       # taz.de -- Biopic über Chet Baker: Ärger ist gut für ihn
       
       > Das Biopic „Born to Be Blue“ setzt einen Wendepunkt im Leben des
       > Jazztrompeters Chet Baker behutsam ins Bild. Mit dabei: Ethan Hawke.
       
   IMG Bild: Weitertrompeten, auch mit Zahnersatz: Ethan Hawke als Chet Baker
       
       Der Schlag sitzt. Der nächste auch. Und der nächste. Und so weiter. Kaum
       anzusehen, was der erboste Dealer mit seinem säumigen Kunden macht. Dessen
       Mund färbt sich rot, während der andere ihn anschreit: „Nie mehr Jazz
       spielen!“
       
       Gerade eben noch hat Chet, das Opfer, in einem Film über sich selbst
       mitgewirkt. War mit der Schauspielerin Jane (Carmen Ejogo) aus, die seine
       frühere Frau spielt. Der Film sollte das Comeback des bis kurz zuvor in
       Italien inhaftierten Jazzmusikers Chet Baker werden. Jetzt liegt Chet mit
       herausgeschlagenen Schneidezähnen und aufgeplatzten Lippen im Krankenhaus.
       Wie es scheint, das Ende einer Karriere, in der Heroinsucht schon den ein
       oder anderen größeren Konflikt mit dem Gesetz nach sich gezogen hat.
       
       „Born to Be Blue“ des kanadischen Regisseurs Robert Budreau konzentriert
       sich auf diesen einen Moment im Leben des Jazztrompeters und -sängers Chet
       Baker, des Stars des West-Coast-Jazz, der kalifornischen Variante des Cool
       Jazz. Im Jahr 1966 wurde der echte Baker tatsächlich Opfer eines brutalen
       Überfalls, der den Musiker nicht nur Teile seines Gebisses, sondern vor
       allem seinen Ansatz beim Blasen seines Instruments kostete. Bei weniger
       entschiedenen Charakteren hätte solch ein Ereignis das unrühmliche Aus für
       ihre Musikerlaufbahn bedeutet.
       
       ## Knorrig, fragil, autodestruktiv
       
       Chet Baker hielt durch, begann wieder zu spielen, wenn auch
       zahnersatzbedingt mit verändertem Ansatz und technisch weniger flexibel.
       Diesen siegreichen Kampf einer Künstlernatur mit seinen eigenen
       Beschränkungen macht Budreau zum Dreh- und Angelpunkt seiner Hommage an
       einen Musiker, der für seinen Instrumentalstil fast gleichermaßen berühmt
       war wie für seinen Gesang – und seine Drogenabhängigkeit.
       
       „Born to Be Blue“ erinnert in dieser Hinsicht an „Bird“, Clint Eastwoods
       bewegendes Porträt der Bebop-Legende Charlie Parker von 1988: Der
       Saxofonist Parker war ebenso wie Baker heroinsüchtig. Parker war für Baker
       zudem eine wichtige Station in der Karriere des Trompeters. So wird Parker
       denn auch in „Born to Be Blue“ mit großer Verehrung von Baker erwähnt.
       
       Budreau hat zugegebenermaßen keinen übermäßig originellen Ansatz gewählt,
       das Leben seines Protagonisten zu erzählen. Wendepunkte bieten sich einfach
       sehr gut an, um Erzählbögen zu finden. Das tut Budreau ohne allzu viele
       narrative Kniffe. Eine geschickte Strategie, um herkömmliche Rückblenden zu
       vermeiden, ist hingegen sein Rückgriff auf den Film im Film über Chet
       Baker: Wenn Budreau etwas aus der Vergangenheit erzählen will, durchsetzt
       er die Rahmenhandlung mit Schwarz-Weiß-Szenen – die stammen dann von den
       Dreharbeiten zum eingangs erwähnten Film.
       
       Mehr noch als dieses elegante Montageverfahren überzeugt an „Born to Be
       Blue“ aber sein Hauptdarsteller. Ethan Hawke verkörpert das Knorrige,
       zugleich äußerst Fragile und Autodestruktive an Baker mit angemessen
       minimalem Spiel. Scheinbar kann diesen Mann nichts aus der Ruhe bringen, er
       könnte glatt als Stoiker durchgehen, wäre er nicht in Wirklichkeit eine
       sehr leicht zu verletzende, von Selbstzweifeln gequälte Natur.
       
       ## Antworten, die erstaunen
       
       Statt sein Künstlerdrama mit übermäßiger Dramatik auszustatten, lässt Hawke
       seinen Baker still leiden. Und das sehr überzeugend. Seine Wut bricht sich
       dann in so genau dosierten Ausbrüchen Bahn, dass sie überrascht. Und statt
       von einer Tragödie zu berichten wie im Fall von Charlie Parker, der mit 34
       Jahren an einer Leberzirrhose starb, setzt Budreau ans Ende seines Films
       eine Texttafel, laut der Baker mit seiner Heroinsucht weiterlebte, in den
       siebziger und achtziger Jahren einige der erfolgreichsten Platten seiner
       Laufbahn einspielte und mit diesem Lebensstil immerhin 58 Jahre alt wurde.
       
       Ohne die Sucht zu glorifizieren – die meiste Zeit des Films sieht man
       Baker, wie er eisern versucht, clean zu werden – hat „Born to Be Blue“
       selbst auf Fragen der Abhängigkeit von zerstörerischen Narkotika eine
       Antwort, die erstaunt. Oder höchst romantisch ist. Bei Baker wirkt sie
       jedenfalls stimmig. Was auch für die Worte gilt, mit denen er die anfangs
       skeptische Jane bei ihrem ersten gemeinsamen Abend zu gewinnen sucht:
       „Ärger ist gut für dich.“ Hier meint der Künstler womöglich weniger sein
       Gegenüber als sich selbst. Und darin sollte er recht behalten.
       
       8 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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