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       # taz.de -- Bildungspolitik in Berlin: Zündstoff für die Notendebatte
       
       > Schulnoten sind ungerecht, sagen Kritiker. Am Donnerstag gründet sich ein
       > Schulnetzwerk, das eine Alternative zur Zifferbenotung will.
       
   IMG Bild: Wie gerecht können Schulnoten sein? Darüber streiten Experten
       
       Wer auf „Eins“ in Mathe steht, kann gut rechnen. Wer auf „Fünf“ steht,
       nicht. Schule soll Leistung bewerten, möglichst objektiv, möglichst
       vergleichbar. Ziffern von eins bis sechs haben einen Vorteil: Jeder
       versteht sie intuitiv. Sehr gut bis ungenügend, und dazwischen sortiert
       sich die Mitte. So objektiv, so vergleichbar?
       
       So ein Unfug, sagt Lothar Sack, stellvertretender Vorsitzender des Berliner
       Verbands der Gesamtschulen, kurz GGG. Noten, sagt der ehemalige
       Schulleiter, „bieten keine objektive Vergleichbarkeit. Schlimmer noch: Sie
       wirken demotivierend.“
       
       Sack will wieder frischen Wind in die Notendiskussion bringen, die in
       Berlin zuletzt geführt wurde, als vor rund zehn Jahren verbale
       Beurteilungen als Alternative bis zur vierten Klasse eingeführt wurden. Am
       heutigen Donnerstag will sich nun in der Neuköllner Fritz-Karsen-Schule ein
       Netzwerk aus Schulen gründen, das die Notendebatte einen Schritt
       voranbringen will.
       
       „Wir wollen ein Konzept der Leistungsbewertung vorlegen, das als offizielle
       Alternative zum derzeitigen Noten- und Punktesystem anerkannt wird, und
       zwar bis zur zehnten Klasse“, sagt Robert Giese, Schulleiter der Neuköllner
       Fritz-Karsen-Gemeinschaftsschule, die bei dem Netzwerktag mit dabei ist und
       selbst bis zur sechsten Klasse notenfrei ist.
       
       Das wäre in der Tat eine kleine Revolution an der Bewertungsfront – für die
       man in der Bildungsverwaltung von Senatorin Sandra Scheeres (SPD) offenbar
       durchaus ein offenes Ohr hat. „Uns wurde signalisiert: Wenn ihr ein
       vernünftiges Konzept habt, kann man darüber diskutieren.“ Die
       Bildungsverwaltung äußerte sich dazu auf taz-Nachfrage nicht.
       
       Das Bedürfnis, die Notendebatte neu aufzurollen, ist in Berlins
       Lehrerkollegien vorhanden: 42 Schulen hätten sich für den Netzwerktag
       angemeldet, sagt Sack, alles Grund- und Gemeinschaftsschulen, einige hätten
       bereits Erfahrungen mit notenfreien Zeugnissen.
       
       Die Notendebatte spaltet Eltern wie Lehrerkollegien in zwei Lager, die
       Diskussion wird gerne mal emotional, und jeder weiß Studien zu zitieren,
       die die eigene Position stärken.
       
       ## Lehrer bewerten subjektiv
       
       Zum Beispiel das Argument der Vergleichbarkeit, das die Notenbefürworter
       anführen. Ein Trugschluss, sagen die Gegner: Weil auch Lehrer subjektiv
       bewerten – und Kindern mit Migrationshintergrund oder einem Namen, der
       Rückschlüsse auf ein niedrigeres soziales Milieu zulässt, schlechtere Noten
       geben, wie auch eine Studie von 2011 im Auftrag der Vodafone-Stiftung
       zeigte. Nun zählt in Berlin beim Übergang auf die weiterführende Schule
       zwar der Elternwille, aber auch dafür braucht es bildungsbewusste Eltern –
       die wieder eher im Akademikermilieu zu Hause sind.
       
       „Außerdem sagt eine Drei in Mathe nicht, was Ihr Kind denn eigentlich genau
       kann – und was genau nicht“, sagt Notengegner Sack. Er meint: „Wenn ich als
       Lehrer den Leistungsstand meines Schülers ausformulieren muss, urteile ich
       differenzierter und werde dem Kind viel eher gerecht.“
       
       Als Ergänzung zu Ziffernnoten sind verbale Beurteilungen okay, findet
       Gymnasialschullehrerin Kathrin Wiencek, die auch Mitglied im Deutschen
       Philologenverband ist, der die Interessen der Oberstufenlehrer vertritt.
       Als alleinige Alternative funktionierten sie aber nicht: „Ausformulierte
       Beurteilungen sind nicht automatisch differenziert. Oft sind sie für die
       Eltern und die Kinder einfach nur verwirrend.“ Wiencek sagt: „Kinder wollen
       sich vergleichen, sie wollen klare Ansagen, wo sie stehen.“
       
       ## Ungleich demotivierender?
       
       Die Frage ist, warum sie das wollen: Ist der Leistungsgedanke „in uns
       drin“, wie Wiencek sagt – oder verinnerlichen Kinder schon früh eine
       „gesamtgesellschaftliche Erwartungshaltung“, wie Schulleiter Giese meint.
       Das heiße ja nicht, nur weil man keine Noten gebe, spiele Leistung eine
       geringere Rolle. Und sein Kollege Sack sagt, es sei für ein Kind nur
       ungleich demotivierender, mit einer Fünf den Stempel „Du packst das nicht“
       zu bekommen, als zu erfahren, was es stattdessen kann.
       
       Beurteilungen sind differenzierter, vielleicht motivierender – bieten aber
       auch mehr Spielraum für Interpretationen. Das Indikatorenzeugnis, das es an
       vielen Grundschulen als Notenalternative gibt, lässt Eltern tatsächlich oft
       ratlos zurück: Was bedeutet es, wenn bei „Schreibt eigene Texte weitgehend
       richtig“ das Kreuzchen in der Mitte zwischen „sehr“ bis „gering ausgeprägt“
       ist?
       
       Auch Sack und Giese sagen: Solche Zeugnisse verwirren, und sind nichts
       anderes als verkappte Noten. Wie macht man es besser? Darüber, sagen beide,
       wollen wir jetzt diskutieren.
       
       15 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Klöpper
       
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