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       # taz.de -- Kat Kaufmanns neuer Roman: Nicht ich, sondern du
       
       > Durch Berlin und Moskau: Kat Kaufmanns neuer Roman „Die Nacht ist laut,
       > der Tag ist finster“ erzählt vom Trip eines verlorenen jungen Mannes.
       
   IMG Bild: Kat Kaufmann schreibt so wild wie sie denkt
       
       Als Jonas’ geliebter Großvater stirbt, hinterlässt er ihm 5.000 Euro und
       eine Notiz, die wegweisend sein wird: „Finde diesen Mann! Valerij
       Butzukin.“ Völlig auf den Kopf gestellt, stürzt sich Jonas, Psychopharmaka
       schluckender Studienabbrecher und Protagonist in Kat Kaufmanns neuem Roman
       „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“, ins Berliner Nachtleben.
       
       Dort trifft er auf Stas und Juri – so liebe- wie verhängnisvolle
       Weggefährten – und schließt sich ihnen an. „Nein, nicht denen!“, will man
       ihm wie allen notorischen Losern zurufen. Schon sind die drei mit falschem
       Pass in Moskau gelandet, schon stellen die beiden Chaoten Jonas eine
       bezaubernde Russin, aber auch einen Mafioso vor. Butzukin aber bleibt als
       möglicher Vater von Jonas verschollen.
       
       Der progressiv rhythmisierte Text ist überwiegend in der zweiten Person
       verfasst. Dieses Du, Du, Du kreiert einen scheppernden Späti-Sound, der in
       Erinnerung bleibt: „Genau vor einem Jahr hat sie es gesagt, deine Mutter,
       dass dein Name Geschenk Gottes bedeutet. Weil du genau das für sie bist.
       Das Internet aber sagte: „Ja, ja Jo-nas, heißt Geschenk Gottes, aber eben
       auch Taube und Zerstörer. Such dir was aus.“
       
       [1][Kaufmann] schreibt wild. Sie verbindet die Geschichte eines vaterlos
       aufgewachsenen Antihelden mit denen von prolligen Saufbolden, dem Zweiten
       Weltkrieg, dem Kalten Krieg 2.0, der großen Liebe. Der Wechsel zwischen
       diesen Welten, filmisch rasant erzählt, gelingt fast immer. Nur wo
       dystopisches Kriegsszenario auf mafiöse Machenschaften stößt, gerät er ein
       bisschen zu konstruiert.
       
       ## Russische Schwermut gibt dem Text Atmosphäre
       
       Die in Sankt Petersburg geborene Kat Kaufmann lebt in Berlin. Trotzdem
       handelt es sich bei ihren Texten nicht um „Berlin-Romane“, eine im
       Literaturbetrieb inflationär verwendete Genrezuschreibung für alles, was
       mit einer in Rausch verpackten Unsicherheit von jungen Menschen in der
       Großstadt zu tun hat.
       
       Mit ihrem Debüt „Superposition“ hat die Autorin den
       „Aspekte“-Literaturpreis des ZDF gewonnen. Seitdem ist sie die Frau fürs
       Feuilleton, die quer denkt und unbequem ist. Kaufmann beschäftigt sich mit
       vermeintlichen Wahrheiten und dem, was dazwischen liegt. Ihre
       deutsch-russische Biografie lässt sie dabei immer einfließen.
       
       Auf seinem Trip durch Moskau und die russische Provinz erlebt das Trio
       mehr, als es sich vorzustellen wagte. Seine Kraft entwickelt der Roman in
       Entscheidungsmomenten, die genauso wenig rückgängig zu machen sind wie die
       Tattoos, die sich Jonas nach einer verstörenden Begegnung stechen lässt.
       
       Russische Schwermut gibt dem Text eine Atmosphäre, an der es zu Beginn
       mangelt. Die entsteht, wenn er leise ist, nicht laut. Als ein neuer Kalter
       Krieg zwischen den beiden Supermächten „Russasia“ und „Ameropa“ ausbricht,
       verdichtet sich die Handlung zu einem spannenden Endzeitthriller.
       Klassische Kriegsmotive werden mit den Niederungen der Gegenwart verknüpft:
       Ein halb erfrorener Hund liegt in einer Bärenfalle, Mails an die sich
       sorgende Mutter werden nie abgeschickt, fernab von hippen Cafés wird
       „coffee crema with soja“ getrunken.
       
       ## Biografische Spuren, vom Schnee verdeckt
       
       Zwischen alldem ist die Hauptfigur auf der Suche nach einer Information,
       die seine Welt zusammenhält. Was ist sein Problem? Eskapismus? Weltekel?
       Ziellosigkeit? Manches deutet darauf hin, dass hier eine Psychose ballert
       und nicht die Raketen in der russischen Wildnis. Die Geschichte um Jonas,
       seinen Großvater und Butzukin ist am Ende auch ein Generationenroman. Sie
       legt biografische Spuren, die der Schnee zudeckt.
       
       Jonas Jugend schwindet im Entwurf einer Mail, im Albtraum des Terrors und
       in jeder Menge Psychopharmaka: „Und wenn die Nacht laut ist und der Tag
       finster – muss die Dunkelheit dein Freund werden, damit du die Sterne
       wieder sehen lernst.“
       
       18 Jun 2017
       
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