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       # taz.de -- Kolumne Minority Report: Spoiler: Wir sterben alle
       
       > Kohl wird zum Helden verklärt, aber ich lese die Nachrufe nicht. Da lasse
       > ich mir lieber von Onkel A. was über Kohls Ausländerpolitik erzählen.
       
   IMG Bild: Blumen für Kohl – gibt's von unserer Autorin nicht
       
       Über die Toten soll man nur gut sprechen. Das gilt auch für
       Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl, der am vergangenen Freitag mit 87 Jahren
       starb und seitdem allgegenwärtig von allen Zeitungstiteln schmollt. Wer am
       Wochenende zu einer Alternative am Kiosk greifen wollte, hatte es schwer.
       Denn: Wenn mächtige Männer krank und alt sind, werden sie schamhaft
       belächelt und ins Nebenzimmer geschoben. Wenn sie tot sind, werden sie zu
       Helden verklärt.
       
       Verstehen Sie mich nicht falsch, die Nachrufe auf Helmut Kohl sind sicher
       alle sehr lesenswert und historisch gehaltvoll. Schließlich liegen sie
       schon seit zehn Jahren in der Schublade. Jedes Mal, wenn wieder gemunkelt
       wurde, Kohl mache es nicht mehr lange, wurden sie rausgeholt und
       aktualisiert. Der Nekrolog ist ja auch deshalb so treffsicher, weil er als
       einziges journalistisches Format die Zukunft vorhersagen kann (Spoiler: Wir
       sterben alle). Trotzdem habe ich keinen einzigen Nachruf gelesen, denn es
       gibt weiß Gott wichtigere Dinge als Kohl. Und für Beileidsjournalismus bin
       ich sowieso nicht zu haben.
       
       Ich besuche lieber meine Familie. Auch da erscheint Kohls Gesicht auf dem
       Fernsehbildschirm, und Onkel A. schüttelt dabei mechanisch den Kopf. 1982,
       als Kohl erstmals Bundeskanzler wird, ist mein Onkel 18 und lebt seit drei
       Jahren in Deutschland. Seine Eltern nehmen im selben Jahr noch die „Türken
       raus“-Prämie an, 10.500 D-Mark für Gastarbeiter, die Deutschland ein für
       alle Mal verlassen. Onkel A. trägt Levi’s, fährt Opel und hat keinen Bock
       auf Türkiye. Er winkt Bruder und empörten Eltern zum Abschied, die 1.500
       D-Mark extra bekommen hätten, wenn nicht nur einer, sondern beide Söhne die
       Fliege gemacht hätten.
       
       Wie erinnert sich Onkel A. an Kohl? „Ist das ein Witz? Weißt du, was er 16
       Jahre lang für uns Ausländer gemacht hat? Nichts. Wie ein faules Domuz. Die
       meiste Zeit hat er so getan, als würden wir nicht existieren.“
       
       Der Bruder von Onkel A. kommt übrigens zurück nach Deutschland und lebt mit
       Frau und Kind am Rand des niedersächsischen Gifhorn. Bis ein bis heute
       unaufgeklärter Brand das Mehrfamilienhaus Anfang 1993 vollkommen zerstört.
       Die Bewohner überleben alle zum Glück. Nicht so im 300 Kilometer entfernten
       westlichen Solingen, wo ein ähnlicher Brand wenige Wochen später fünf
       Menschenleben kostet. Vier Neonazis werden verurteilt. Kanzler Kohl besucht
       nicht einmal die Trauerfeier für die Opfer.
       
       Dabei folgt Solingen auf Hoyerswerda, Mölln, Rostock-Lichtenhagen, Hünxe
       und so weiter: etliche rechtsextreme Anschläge, die sich in Kohls
       Regierungszeit ereignen. Der ewige Kanzler aber ist zu beschäftigt damit,
       sich für den Mauerfall feiern zu lassen, möchte sich nicht auch noch mit
       dessen Folgen auseinandersetzen: Er lässt ausrichten, dass er „weiß Gott
       wichtigere Termine“ habe als die Trauerfeier für Gürsün, Hatice, Gülüstan,
       Hülya und Saime, und für „Beileidstourismus“ sei er sowieso nicht zu haben.
       Dass Kohls eigene Trauerfeier nun als erster europäischer Staatsakt
       inszeniert wird, lässt nur hoffen, dass ihn der Tourismus am eigenen Grab
       weniger stört. Onkel A. wird jedenfalls nicht kommen.
       
       18 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fatma Aydemir
       
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