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       # taz.de -- Debatte Reform der Jugendhilfe: Kinder stärken statt den Staat
       
       > Die geplante Reform der Kinder- und Jugendhilfe ist eine beispiellose
       > Verschlimmbesserung. Die Warnungen der Fachwelt werden ignoriert.
       
   IMG Bild: Abenteuerspielplätze und Spielmobile stellen für Familien eine wichtige Alltagsentlastung dar. Doch an ihnen wird gespart
       
       Die Fachwelt kämpft seit August 2016 in großer Einigkeit gegen eine
       familienfeindliche Sparreform der Kinder- und Jugendhilfe, die die Rechte
       der Betroffenen schwächen und die Eingriffsrechte des Staates stärken will.
       Diese Reform wird das Gegenteil dessen bewirken, was sie verspricht.
       
       Unter dem Namen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sollen
       Rechtsansprüche auf Hilfen zur Erziehung eingeschränkt, Leistungen für
       junge Erwachsene abgebaut und Eingriffe in das Sorgerecht und die
       dauerhafte Unterbringung in Heimen erleichtert werden. Damit würde die
       schon bestehende Schieflage, dass es immer weniger präventive Hilfen und
       immer mehr Eingriffe in Familien gibt, noch erheblich verschärft.
       
       Schon jetzt ist die Situation desolat: So sind allein von 2006 bis 2015
       über 3.200 Jugendhäuser, Abenteuerspielplätze und Spielmobile, die gerade
       für Familien in Deutschlands Armutsregionen eine wichtige
       Alltagsentlastung darstellen, eingespart worden. Gleichzeitig steigt die
       Zahl der Sorgerechtsentzüge und Inobhutnahmen von Jahr zu Jahr. Dabei hat
       das System gerade hier eine Schwäche: Fast jede zweite Unterbringung in
       Heimen und Pflegefamilien muss ungeplant beendet werden. Die Verweildauer
       in Heimen hat sich von durchschnittlich 27 auf 20 Monate, die in
       Pflegefamilien von 50 auf 40 Monate verkürzt.
       
       ## Kritik am Familienministerium
       
       Eine Unterstützung von überforderten Familien ist alternativlos und muss
       daher im Zentrum einer Reform stehen, wenn nicht noch mehr Kinder in Heimen
       landen sollen. Doch statt diese Hilfe zu stärken, soll künftig schon zu
       Beginn eine auf Dauer ausgerichtete Perspektivklärung erfolgen, also zum
       Beispiel eine dauerhafte Heimunterbringung ohne Option zur Rückkehr in die
       Herkunftsfamilie. Die hohe Kinderarmut spielt in dieser Reform keine Rolle
       und wird auch nicht benannt, obwohl sie einer der Hauptgründe für
       Hilfebedarfe ist.
       
       Betroffen von dieser Reform sind rund 4 Millionen Kinder und Jugendliche
       sowie deren Eltern, etwa 800.000 hauptamtliche Fachkräfte und
       Hunderttausende ehrenamtliche Mitarbeiterinnen. Heute soll es nun in der
       vom Familienausschuss des Bundestags veranstalteten öffentlichen
       ExpertInnenanhörung zu einer Abrechnung der Fachwelt mit dem Gesetzentwurf
       kommen.
       
       Der Widerstand gegen diese Reform beschränkt sich inzwischen längst nicht
       mehr nur auf die Fachleute. Nachdem die Bedenken gegen die Reform
       inzwischen auch bei den Jugendämtern und freien Trägern angekommen sind,
       haben sich die beiden großen Gewerkschaften dem Protest angeschlossen. Die
       Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Vereinigte
       Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) haben inzwischen erklärt, dass sie das
       Gesetz ebenfalls ablehnen. Die GEW hat die Abgeordneten des Bundestages
       aufgefordert, der Reform nicht zuzustimmen.
       
       ## Gemeinsam gegen die Reform
       
       CDU und Linke haben sich die Argumente der Fachwelt zu eigen gemacht und
       kämpfen nun gemeinsam gegen die Reform oder zumindest gegen wesentliche
       Teile. Bündnis 90/Die Grünen haben einen Antrag eingebracht, der in
       Übereinstimmung mit der Fachwelt darauf abzielt, die Hilfen für junge
       Erwachsene zu verbessern.
       
       Aus diesem breiten Widerstand kann geschlossen werden kann, dass gegen das
       geplante Kinder- und Jugendstärkungsgesetz insgesamt Vorbehalte bestehen,
       auch wenn zum KJSG keine Stellungnahme abgegeben wurde. Selbst die
       SPD-Fraktion leidet darunter, vom Familienministerium nie ernsthaft in den
       Reformprozess eingebunden worden zu sein. So haben viele Abgeordnete den
       Protest oft erst in ihren Wahlkreisen zu spüren bekommen und die
       Informationen häufig über das Internet erhalten – nachdem sie dort schon
       kommentiert wurden.
       
       Die Entstehungsgeschichte des KJSG ist ein Lehrstück organisierter
       Unverantwortlichkeit von Bund, Ländern und Kommunen. Die hehren Reformziele
       passen nicht zu den Machtfantasien von staatlicher Steuerung. Dazu kommt
       noch die gegenseitige Schuldzuweisung, wenn es um die Finanzierungsfolgen
       geht. Das Chaos wird auch deutlich an den über 50 Änderungsanträgen des
       Bundesrates und den Stellungnahmen von Kommunen und Ländern sowie der
       Reaktion der Bundesregierung.
       
       Dass vor diesem Hintergrund das Licht der Öffentlichkeit gescheut wurde,
       verwundert nicht. Gerade bei der wichtigen Zukunftsfrage, wie Familien mit
       geringem Einkommen besser gefördert werden können, wie Ausgrenzung und
       Bildungsbenachteiligung entgegengewirkt werden kann, braucht es ein
       Zusammenwirken von Politik und Fachwelt – so wie dies bisher auch gute
       Tradition war.
       
       ## Nun auch Wahlkampfthema
       
       Als junger Mensch war für mich der Aufruf von Willy Brandt, „Mehr
       Demokratie wagen“, ein zeitloser Anspruch an die Gestaltungsprozesse in der
       parlamentarischen Demokratie. Eine Politik der Hinterzimmer und der
       gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und
       die Angst vor dem Diskurs mit Fachleuten und Betroffenen ist für mich
       deshalb nicht vereinbar mit demokratischen Ansprüchen.
       
       Ein Ergebnis dieses Prozesses ist allerdings, dass nun die gesamte
       Fachwelt, der Gewerkschaften und Fachverbände so politisiert sind, dass es
       in die nächste Legislaturperiode hineinwirken wird.
       
       Die lokalen und regionalen Bündnisse werden das Thema auch im
       Bundeswahlkampf zu einem zentralen Thema machen. Sie erwarten unabhängig
       vom Ausgang der politischen Entscheidung zum KJSG einen Neustart, der sich
       auch im Koalitionsvertrag und im Regierungsprogramm niederschlägt. Wer
       glaubt, man könne Gerechtigkeit zum Wahlkampfthema machen, ohne die
       Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe und die Kinderarmut ernsthaft
       in Angriff zu nehmen, wird scheitern.
       
       Es ist an der Zeit, Vertrauen in die politische Kultur von Reformprozessen
       zurückzugewinnen. Es ist an der Zeit, dass Reformen verbessern und nicht
       verschlechtern. Und es ist an der Zeit, nach der Bundestagswahl eine
       Enquetekommission im Deutschen Bundestag einzurichten, in der die Eckpunkte
       einer Reform der Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam mit der Fachwelt
       erarbeitet werden.
       
       22 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolfgang Hammer
       
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