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       # taz.de -- Die Wahrheit: Helmut Kohl und ich
       
       > Ein persönlicher Nachruf: Im Bonn der achtziger Jahre war der ewige
       > Kanzler noch ein Ausflugsziel – mit Apfelsaft und genau einer Frage.
       
   IMG Bild: Bei Klassenfahrten nach Bonn lud Helmut Kohl gern spontan ins Kanzleramt ein
       
       Am vorigen Freitag ist Helmut Kohl gestorben, und wie immer, wenn jemand
       stirbt, geht es um Geschichten. Um aufrichtige, wahre, persönliche
       Geschichten … so wie diese: Ich habe Helmut Kohl tatsächlich einmal
       persönlich getroffen. Im Mai 1989, er war Kanzler und ich auf Klassenfahrt
       in Bonn. Wir Schüler standen Eis essend am Kanzleramt, und Helmut Kohl kam
       des Wegs. Allein und ohne seine Bodyguards. Er hatte sich am Kiosk den
       aktuellen Spiegel gekauft. Ich war beeindruckt. Und wusste: Nie wieder
       würde ich der Macht so nahe sein.
       
       Wir umringten ihn, und unsere Lehrerin klärte den Kanzler auf, dass es sich
       bei uns um einen Geschichte-Leistungskurs aus München handele. Helmut Kohl
       sagte: „Das macht doch nichts.“
       
       Er nahm uns mit ins Kanzleramt. Vor der berühmten Henry-Moore-Skulptur
       machten wir ein Gruppenfoto. Kohl rief einem vorbeigehenden Mann zu: „Du
       bist doch aus dem Haushaltsausschuss, fotografieren wirst du ja wohl
       können.“
       
       Und dann durften wir spontan mit ihm in sein Büro. So was hat Kohl
       angeblich öfter mit Schulklassen gemacht. Es gab Apfelsaft und wir durften
       ihm eine Frage stellen. Genau eine. Und es fiel uns nichts ein.
       
       ## Auf Krawall gebürstet
       
       Dabei waren wir achtzehn Jahre alt, auf Krawall gebürstet und links. Noch
       ein Jahr zuvor waren wir nach Rott am Inn zur Beerdigung von Franz Josef
       Strauß gefahren, nur um zu gucken, ob er wirklich tot ist.
       
       Wir wollten die Welt verbessern, wir träumten von der klassenlosen
       Gesellschaft und nicht zuletzt waren wir schlagfertig … Allen voran Erwin
       Moser, der, keine drei Wochen her, bei der Musterung so geglänzt hatte. Als
       uns die Dame auf dem Kreiswehrersatzamt mit der behandschuhten Hand an die
       Hoden griff und sagte: „Husten Sie mal“, und wir bedröppelt dastanden.
       Erwin Moser, legendär, wie er, als die Dame ihn an die Klöten packte,
       sagte: „Ja hoppla, gute Frau, wissen Ihre Nachbarn eigentlich, was Sie
       tagsüber machen?“
       
       Und jetzt fiel uns keine Frage für Kohl ein. Auch Erwin nicht. Harald Meyer
       sagte schließlich: „Macht es Spaß, Bundeskanzler zu sein?“ Mehr war nicht
       drin. Kohl aber verzog keine Miene, sah uns sehr ernst an und antwortete:
       „Wisst ihr, nachts, wenn die Nation schläft, sitze ich hier allein in
       diesem Büro. Ich schaue die Goldfische in meinem Aquarium an und denke an
       Deutschland.“
       
       Ich schwöre, er hat das so gesagt, und ich war verdammt noch mal ergriffen.
       Diese Ergriffenheit sieht man sogar auf dem Foto. Die Macht und der
       verschüchterte Junge. Himmel, sah ich scheiße aus Ende der achtziger Jahre.
       Umgekrempelte Jeans, eine braune Wildlederjacke, weiße Socken. Wenn man
       objektiv bleibt, ist Kohl der einzig halbwegs anständig angezogene Mensch
       auf dem Bild.
       
       ## Die Scham der Hippie-Eltern
       
       Das Foto wurde in unserer Lokalzeitung veröffentlicht, und meine
       Hippie-Eltern haben sich in Grund und Boden geschämt. Der Nachbar kam
       herüber, mit der Zeitung in der Hand, und sagte zu meinem Vater: „Mit Kohl
       auf einem Bild! Auf Ihren Jungen können Sie stolz sein.“ Mein Vater
       antwortete: „Das ist nicht mein Sohn.“ Meine Mutter weinte.
       
       Ich hab Kohl nie gewählt. Aber dieser riesige Mann, der mich auf dem Foto
       um zwei Köpfe überragt, wie er da stand und das Gewicht der Welt zu tragen
       schien … Es blieb in mir haften: Seine Fische und ich wissen, wie er
       wirklich ist.
       
       Und dann, viele Jahre später, zu Zeiten der Spendenaffäre und der
       „jüdischen Vermächtnisse“, stellte sich heraus: Er war auch ein ganz
       gewöhnlicher Krimineller. Selbst wenn es total albern klingt, irgendetwas
       ist da in mir kaputtgegangen. Oder auch wieder ins Lot gekommen.
       
       Vorigen Freitag ist Helmut Kohl gestorben. Der „Kanzler der Ergriffenheit“
       wurde 87 Jahre alt.
       
       20 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jess Jochimsen
       
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