URI: 
       # taz.de -- Zehn Jahre Die Linke: Harmonie statt Sozialismus
       
       > Bei der Linkspartei herrscht Harmoniesucht. Damit die beiden Parteiflügel
       > nicht wieder auseinanderdriften, werden Grundsatzthemen vermieden.
       
   IMG Bild: Das Duo Riexinger und Kipping söhnte die zerstrittenen Parteiströmungen miteinander aus
       
       Berlin taz | Bernd Riexinger frohlockt. Am Freitag findet der Parteitag der
       Linken in Hannover statt. Und „es ist das erste Mal seit fünf Jahren, dass
       wir vor einem Parteitag keine öffentliche Auseinandersetzung haben“,
       stellte der Parteichef in einem Pressegespräch diese Woche zufrieden fest.
       
       Es hätte auch anders kommen können. Denn am vergangenen Freitag stimmten
       die Länder im Bundesrat über die Neuordnung der
       Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab. Darin hatte der Finanzminister auch die
       zukünftig privatrechtlich organisierte Autobahngesellschaft geschmuggelt.
       [1][Sahra Wagenknecht], Fraktionschefin der Linkspartei, lehnte das Paket
       im Bundestag daher ab. Ihre Vertraute, die Abgeordnete Sevim Dağdelen,
       warnte in einem offenen Brief insbesondere an die Adresse der drei Länder,
       in denen die Linke [2][mitregiert]: „Es ist eine entscheidende Frage für
       die Glaubwürdigkeit von Die Linke, dass sie standhaft und konsequent in der
       Grundsatzfrage der Privatisierung bleibt.“
       
       Doch die Linkspartei in Thüringen, Brandenburg und Berlin stimmten zu.
       Sollten sie etwa 2 Milliarden Euro für ihre Staatssäckel auf der Straße
       liegen lassen?
       
       Am Tag danach tagt der Parteivorstand in der Berliner Zentrale. Die
       Berliner, Brandenburger und Thüringer Landesverbände werden zu Abtrünnigen
       erklärt, Bodo Ramelow wird aus der Partei ausgeschlossen? Ach was! Der
       Vorstand beschließt eine Erklärung, dass man ab sofort gegen
       Autobahnprivatisierungen kämpfen wolle. Unterschrieben auch von Bodo
       Ramelow und Sahra Wagenknecht. „Eine Meisterleistung“, gratuliert sich
       Parteichef Riexinger selbst.
       
       ## Die Langweile
       
       Zehn Jahre nach ihrem Gründungsparteitag in Berlin kommt die Linkspartei an
       diesem Freitag zum Parteitag in Hannover zusammen. 579 Delegierte werden
       [3][über das Wahlprogramm] und rund 300 Änderungsanträge diskutieren. Die
       Linkspartei fordert das, was sie immer fordert: Hartz IV abschaffen,
       bessere Renten und Löhne, höhere Steuern für Reiche und Frieden auf Erden.
       
       Wie diszipliniert und geordnet es inzwischen in der Linkspartei zugeht,
       zeigt nicht nur der im Keim erstickte Zwist über die
       Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Strittiges, wie die Frage, wie es die
       Linkspartei mit der auch bei Rechtspopulisten verhassten EU hält, hat der
       Parteivorstand bereits zuvor abgeräumt. Oder es steht gar nicht auf der
       Tagesordnung, wie der Vorschlag für ein Einwanderungsgesetz, den sieben
       Landesvorsitzende kürzlich publizierten. Der Hannoveraner Parteitag
       verspricht einer der langweiligsten in der Parteigeschichte zu werden.
       
       Das liegt nicht nur an der derzeit fehlenden Machtoption, die verhindert,
       dass etwa die detaillierten Steuerpläne im Wahlprogramm der Linken oder der
       Mindestlohn von 12 Euro ab der nächsten Legislaturperiode tatsächlich
       umgesetzt werden. Sondern auch an der Harmoniebedürftigkeit der Partei.
       Bloß keine ideologischen Grundsatzdebatten – wie keine andere Partei sehnt
       sich die Linkspartei nach Frieden. Auf der Welt sowieso und in den eigenen
       Reihen.
       
       Einige in der Linkspartei sagen: Es herrsche Friedhofsruhe. Wer den Kopf
       rausstrecke, kriege eins auf den Deckel. Die Zitatgeber wollen
       bezeichnenderweise nicht genannt werden.
       
       Das war mal anders.
       
       Als sich die frisch gegründete Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit und
       die PDS 2005 erstmals für die Bundestagswahl zusammentaten und am 16. Juni
       2007 in Berlin zur Partei „Die Linke“ vereinigten, ging es für beide
       zunächst nur bergauf. Der bislang ausschließlich als Ostpartei
       wahrgenommenen PDS gelang im Verbund mit den abtrünnigen Sozialdemokraten
       der Einzug in sieben von zehn westdeutschen Länderparlamenten. Bei der
       Bundestagswahl 2009 holte die Linke fast 12 Prozent.
       
       ## Die Transformation
       
       Doch die rasche Vereinigung der unterschiedlichen Milieus und die schnellen
       Erfolge forderten ihren Tribut.
       
       Bis 2009 sei die Linke eine Protestpartei gegen die Agenda-Reformen
       gewesen, die enttäuschte SPD-Wähler einsammelte, sagt Horst Kahrs, der für
       die linksparteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung Wahlen und Parteien analysiert.
       Danach habe die Aufgabe angestanden, aus der Bewegung eine Parlamentspartei
       zu machen. „Stattdessen steckte man zu wenig Energie in die Transformation
       und zu viel in innerparteiliche Konflikte. Infolgedessen flog die Partei
       wieder aus den Landtagen.“
       
       Den Höhepunkt erreichten die inneren Differenzen auf dem Göttinger
       Parteitag vor fünf Jahren.
       
       Gregor Gysi, der damalige Fraktionsvorsitzende, sprach von Hass in der
       Fraktion, die westlichen Landesverbände sangen die Ostverbände nach der
       gescheiterten Wahl von deren Kandidaten Dietmar Bartsch zum
       Parteivorsitzenden nieder: „Ihr habt den Krieg verloren.“
       
       „Dieser Parteitag war das politisch Krasseste, was ich je erlebt habe“,
       erzählt Jan Korte, der einst von den Grünen zur PDS stieß und heute
       Fraktionsvize der Linkspartei im Bundestag ist. „Nach der Rede von Gysi
       hatten gerade viele Ältere Tränen in den Augen.“
       
       ## Der Stillstand
       
       Auf jenem Parteitag wurden Katja Kipping und Bernd Riexinger zu
       Vorsitzenden gewählt. Sie führen die Partei bis heute. Das Duo, sie
       gebürtige DDR-Bürgerin, Repräsentantin des grünen-affinen, urbanen Milieus,
       er Baden-Württemberger und Gewerkschaftler durch und durch, söhnte die
       zerstrittenen Parteiströmungen miteinander aus.
       
       Doch das reicht nicht, meint Kahrs. „Die Partei wird seit der letzten
       Bundestagswahl zu wenig weiterentwickelt und zu viel verwaltet.“ Nicht nur
       Kahrs beklagt politisch-strategischen Stillstand in der Partei. Auch Korte
       sieht gerade nach den letzten Landtagswahlen, bei denen die Linke im
       Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ihre Wahlziele
       verfehlte, Bedarf, stärker darüber zu reden, „wohin wir mit dem Laden in
       den nächsten zehn Jahren eigentlich wollen“.
       
       Wie bindet man einerseits die jungen, akademisch gebildeten Menschen, die
       seit dem vergangenen Jahr verstärkt in die Partei eintreten, und
       andererseits die verbliebenen Proletarierer, die nun verstärkt die AfD für
       sich entdeckt haben, ein?
       
       ## Das, was fehlt
       
       Petra Pau, PDS-Mitglied der ersten Stunde und seit 2006 Vizepräsidentin im
       Bundestag, sieht zusätzlich zur sozialen Frage vor allem Nachholbedarf bei
       Themen wie Digitalisierung, Demokratie und Bürgerrechte. Diese würden zu
       oft den Spezialisten überlassen. Bereits vor drei Jahren verlangte sie
       daher in einem Aufsatz zur Linken im 21. Jahrhundert: „Rote müssen zugleich
       Grüne und Piraten sein.“
       
       Bisher ist das nur vereinzelt der Fall. Von den Wählern, die Grüne, SPD und
       Piraten in NRW verloren zog es [4][nur 2,5 zur Linkspartei]. Warum das so
       ist, wird sich die Linke fragen müssen. Vielleicht schon in der Aussprache
       auf dem Parteitag.
       
       9 Jun 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Sahra-Wagenknecht-ueber-die-NRW-Wahl/!5409662
   DIR [2] /Kommentar-Linkspartei-und-Wahl-2017/!5393889
   DIR [3] /Die-Linke-auf-Koalitions-Check/!5397573
   DIR [4] /Landtagswahl-in-Nordrhein-Westfalen/!5409182
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Die Linke
   DIR Flügelkämpfe
   DIR Saarland
   DIR Die Linke
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Saarland
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Katina Schubert
   DIR Die Linke
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Lesestück Interview
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Landtagswahlen
   DIR Martin Schulz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Zoff in der Saar-Linken: „Jude“ oder „Judas“?
       
       Die Affäre um antisemitische Äußerungen des Saarlouiser Linksparteichefs
       Mekan Kolasinac ist ein Tiefpunkt der Grabenkämpfe der Partei.
       
   DIR Karriere der Linken-Parteichefin Kipping: Katja und die Jugendbrigade
       
       Sie verdankte ihren Aufstieg zur Chefin der Linkspartei einem Netzwerk aus
       den Anfangsjahren. Manch alte Freunde hat die Sächsin enttäuscht.
       
   DIR Wahlkampf der Linken in Berlin: Der „nette Kollege“ Liebich
       
       Im Berliner Wahlkreis Pankow ist die CDU dem Direktkandidaten der Linken
       auf den Fersen. Gentrifiziert Schwarz-Grün die Linke weg?
       
   DIR Landesliste der Saar-Linken: Ein Oskar für den vertracktesten Streit
       
       Zwei Genossen fechten die Kandidatenliste an – und verlieren. Weiter
       gezankt wird trotzdem. Begonnen hat alles mit Lafontaine vor der Wahl 2013.
       
   DIR Dietmar Bartsch über die Linkspartei: „Differenzen kulturvoll austragen“
       
       Der Spitzenkandidat sieht sich nicht in Sahra Wagenknechts Schatten. Er
       glaubt, das Konflikte in der Partei nicht mehr so ideologisch aufgeladen
       sind.
       
   DIR Parteitag der Linken: Fundamentalrealismus
       
       Landesverbände mit Regierungsbeteiligung müssen sich Verrat vorwerfen
       lassen – aber es gibt auch Applaus für sozialpolitische Erfolge.
       
   DIR Kommentar zu 10 Jahren Linkspartei: Die Gelähmten
       
       Ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung ist die 8-Prozent-Partei erstarrt: in
       Empörungsroutinen und unterdrückten Flügelkämpfen.
       
   DIR Partei-Lexikon: „Die Linke“ in zehn Vokabeln
       
       Es gibt ein paar gundsätzliche Begriffe, die zum Verständnis der Linken
       hilfreich sind. Von Frieden bis Unrechtsstaat ist alles dabei.
       
   DIR Philosoph über die Möglichkeit von R2G: Die Linke muss aktiv werden!
       
       Eine linke Regierung nach der Wahl ist möglich, sagt Thomas Seibert vom
       Institut Solidarische Moderne – wenn WählerInnen Druck machen.
       
   DIR Die Linke auf Koalitions-Check: Vermögensteuer und EU-Neustart
       
       Die Linkspartei hat am Wochenende ihr Wahlprogramm verabschiedet. Die Basis
       muss nun darüber abstimmen. Wie rot-rot-grün-tauglich ist es?
       
   DIR Kommentar Linkspartei und Wahl 2017: Das große Unbehagen
       
       Viele Wähler wollen zur Bundestagswahl zwar für die sozialer gewordene
       Schulz-SPD stimmen – nicht aber für Rot-Rot. Ist die Linke regierungsfähig?
       
   DIR Rot-rote Koalitionschancen im Saarland: Der Schulz-Express im Kriechgang
       
       Die SPD gibt weiterhin keiner Koalitionsoption den Vorzug. Die Linke
       dagegen verlangt eine eindeutige Aussage.
       
   DIR Linkspartei begrüßt den Schulz-Effekt: Klappe halten und gewinnen
       
       Seit die SPD in Umfragen gewinnt, verliert die Linke. Doch die
       Parteiführung bleibt gelassen – ihr Kalkül ist ein anderes.