URI: 
       # taz.de -- Therapeutin über psychisch kranke Eltern: „Sich einmischen ist immer gut“
       
       > Psychisch kranke Menschen machen ihre Kinder zu Eltern und beuten sie so
       > mitunter emotional aus, sagt Renate Höhfeld.
       
   IMG Bild: Fang mich doch
       
       taz.am wochenende: Frau Höhfeld, Sie sind Psychotherapeutin für Kinder und
       Jugendliche und arbeiten auch mit Kindern, deren Eltern psychisch krank
       sind. Bis zu vier Millionen Kinder in Deutschland sollen [1][betroffen]
       sein. Das klingt, als wäre es der Normalzustand. 
       
       Renate Höhfeld: Das ist nicht der Normalzustand. Die meisten Eltern sind
       gesund und können sich einfühlen in ihre Kinder und deren Bedürfnisse
       aufnehmen.
       
       Was ist bei Eltern mit psychischer Erkrankung in der Beziehung zu ihrem
       Kind anders? 
       
       Solche Eltern können ihre Elternfunktion teilweise nicht wahrnehmen. Etwa
       können sie die Tagesstruktur nicht einhalten. Es kann sein, dass dem Kind
       Sachen fehlen, dass es zu spät zur Schule kommt, dass es sich sogar
       fürchtet, in die Schule zu gehen, weil es denkt, wenn es nicht auf Mama und
       Papa aufpasst, passiert etwas Schreckliches.
       
       Anstatt dass Eltern auf Kinder aufpassen, ist es umgekehrt? 
       
       Damit übernehmen die Kinder Elternfunktionen für sich und die Eltern, das
       ist ein ganz auffälliger Aspekt in solchen Familien. Die Kinder werden
       parentifiziert.
       
       Was wiegt schwerer, wenn der Vater oder die Mutter krank ist? 
       
       Schwer wiegt, dass die Eltern als Elternpaar nicht funktionieren können,
       wenn einer psychisch krank ist. Ein Kind braucht, um gut aufzuwachsen, die
       Paarsituation, und zwar dass es ein gutes Zusammenwirken von beiden gibt.
       Ist einer krank, zerfällt das Elternpaar. Es kann sein, dass das Kind das
       spürt und die Eltern gegeneinander ausspielt.
       
       Was ist mit Alleinerziehenden? 
       
       Das heißt ja, dass eine Mutter oder ein Vater beide Funktionen übernehmen
       muss, mütterlich und väterlich sein muss, was schwer ist. Wenn derjenige
       dann noch ausfällt und krank ist, wäre eigentlich von Amts wegen Sorge zu
       tragen.
       
       Und das passiert? 
       
       Offensichtlich nicht. Erst wenn das Kindeswohl gefährdet ist und das im
       Außen deutlich wird, wird eventuell eingegriffen. Wenn etwa ein Kind im
       Kindergarten nicht spielen kann, keine Freunde hat, gucken erfahrene
       Erzieherinnen genauer hin. Dann bemerken sie vielleicht Irritierendes in
       der Art, wie sich die Kinder zurückziehen. Auffälliger allerdings werden
       die Kinder im Schul- und Jugendalter.
       
       Das Kind wird auffällig, heißt das, man pathologisiert es? 
       
       Es geht nicht um Pathologisierung. Das Kind stellt dar, dass es Hilfe
       braucht. Durch Unruhe, depressiven Rückzug, Unfallneigung, somatische
       Schmerzen, Bauchschmerzen etwa, die verhindern, dass es aus dem Haus muss.
       Das Kind kann ja nicht benennen, worunter es leidet, die schwierige
       Situation zeigt sich aber körperlich.
       
       Wie wird die Kindesentwicklung durch die psychische Krankheit der Eltern
       gestört? 
       
       Sie müssen sich das so vorstellen: Eine Entwicklung erfolgt, indem
       Projektionsprozesse hin und her gehen. So entsteht auch Bindung. Nehmen wir
       das Thema Angst. Das Kind projiziert seine Ängste in die Mutter. Die
       psychisch kranke Mutter macht aber dicht und sagt vielleicht: „Huch, das
       kann ich gar nicht ertragen.“ Oder: „Du hast keine Angst, du bildest es dir
       ein, es ist niemand unterm Bett.“ Die Mutter lässt die Angst des Kindes an
       sich abtropfen. Das Kind kann seine Ängste nicht in sie projizieren, weil
       sie keinen Raum hat, weil sie selbst voll von Angst ist. Wenn die Ängste
       der Mutter aus ihrer eigenen Kindheit stammen, spricht man von ‚Gespenstern
       der Eltern im Kinderzimmer‘ oder von ‚transgenerational weitergegebenen
       Traumata‘. Die Mutter kann das Anliegen des Kindes nicht verarbeiten,
       sondern fühlt sich von ihm angesteckt und hält dann auf dramatische Weise
       das, was das Kind an sie heranträgt, von sich fern. Da steht das Kind
       alleine da und wird krank, weil ihm niemand hilft.
       
       Die psychisch kranke Mutter gibt falsche Signale. 
       
       Falsche Signale ist zu einfach. Es werden irritierende Botschaften an das
       Kind herangetragen, die es nicht entschlüsseln kann. Es entsteht keine
       Symbolbildung bei den Eltern mit dem Kind. Sie sind nicht in der Lage, die
       Ängste des Kindes auszuhalten und spielerisch zu mildern, sie sagen nicht:
       „Oh, schau mal, was da aus der Ecke springt, ist das ein Teufelchen? Spiel
       doch mal den kleinen Teufel. Was macht der?“ Sodass das Kind die Angst im
       Gegenüber sehen kann. Und die Mutter sagt dann meinetwegen: „Jetzt habe ich
       aber große Angst vor dem Teufelchen, oh, ich muss mich verstecken.“ Das ins
       Spiel zu überführen und so die Ängste zu bearbeiten, das können diese
       Eltern nicht.
       
       Versucht das Kind, die Irritationen, die die Eltern aussenden, zu
       kompensieren und Ordnung in ein Chaos zu bringen, ohne Vorstellung von
       Ordnung und Chaos zu haben? 
       
       Genau. Zudem entwickelt es eine Allmachtsvorstellung. Das ist die Folge der
       Parentifizierung. Betroffene Kinder denken, einzig sie können den Eltern
       helfen. Das dauert oft so lange, bis das Kind zusammenbricht, weil es bis
       dahin Funktionen übernommen hat, die Eltern zu schonen, zu trösten, zu
       beruhigen, vom Alkohol abzuhalten. Die Kinder übernehmen diese Rollen, die
       nicht kindgerecht sind. Man kann sogar sagen: Damit beuten diese psychisch
       kranken Eltern unbewusst ihre Kinder aus.
       
       Das ist ein starkes Wort: ausbeuten. 
       
       Die Kinder sind so flexibel, das Ich ist noch so schwach, sie können sich
       dagegen nicht wehren.
       
       Für das Kind ist das Verhalten der Eltern das Normale. Was passiert, wenn
       andere aber sagen: Deine Mutter spinnt? 
       
       Es entwickelt ein großes Schamgefühl. Die Kinder laden dann etwa Freunde
       nicht nach Hause ein. Oder bei Alkoholikern sehen wir immer wieder, dass
       das Kind verstummt und so die Eltern schont und schützt. Das geht durch
       alle sozialen Klassen. Die Kinder versuchen, alles zu stabilisieren und
       das, was dahinter ist, zu verschweigen.
       
       Bei Versuchen mit Menschenaffen, wo die Affenmutter stark sediert wurde,
       versucht das Affenkind ununterbrochen, seine Mutter wachzurütteln. 
       
       Das können Sie direkt übertragen auf depressive Mütter und ADHS-Kinder, die
       die Mütter durch Unruhe immer wieder anstoßen: „Mama reagier doch.“ Sie tun
       alles, damit die Mutter in Bewegung kommt.
       
       Wie ist es, wenn diese Kinder ADHS-Medikamente kriegen? 
       
       Ein Riesenproblem. Viele Kinder mit psychisch kranken Eltern sind
       überfordert, sind am Ende, sind müde, aber unruhig. ADHS-Kinder sind
       aufgedreht und unruhig. Wenn so ein Kind in der Schule auffällig wird,
       nicht am Platz sitzt, rumtobt, kriegt es ein Mittel, um durchhalten zu
       können, Methylphenidat. Das ist ein Aufputschmittel, ist Speed, das bei
       Kindern aber beruhigend wirkt. Die Kinder müssen nicht aufdrehen, wenn sie
       Speed kriegen, es hält aber ihre Aufmerksamkeit wach. Die würden
       einschlafen, wenn man ihnen den Rahmen gäbe, sie sind völlig erschöpft
       durch ihre ständige Unruhe und halten sich wach, um die Eltern und ihr
       Umfeld zu kontrollieren. Wenn ich so einem Kind sage, so, jetzt setzt dich
       erst mal hin, dann sieht man erst, wie müde und überfordert es ist. Manche
       schlafen sofort ein.
       
       Erleben Sie das in der Therapie? 
       
       Sicher. Einmal umwickelte sich ein Jugendlicher mit dem Tau, das ich in der
       Praxis habe, und sagte: Ich bleib jetzt hier sitzen. Und dann legt er den
       Kopf auf den Tisch und schläft.
       
       Was machen Sie dann? 
       
       Ja, der schläft dann, und wenn die Stunde zu Ende ist, ist sie zu Ende. Das
       heißt doch: In meiner Gegenwart kannst du ruhig sein. Ich halte das aus,
       wenn du mich nicht unterhältst.
       
       Reagieren betroffene Mädchen und Jungen verschieden? 
       
       Jungen sind eher nach außen gewandt, zeigen Störungen mit aggressivem
       Ausdruck, greifen andere Kinder an. Allerdings gibt es auch Kinder, die
       auffällig werden, weil sie ruhiger werden – besonders Jungen, die dann sehr
       an der Mutter hängen, dicklich werden, eine andere Körperform kriegen. Die
       lassen ihre Aggressionen schön drin. Mädchen dagegen sind eher so, dass sie
       die Aggression gegen das eigene Selbst richten, also etwa magersüchtig
       sind, selbstverletzend, sich zurückziehen.
       
       Kriegen Jungen, da sie Aggression zeigen, früher Hilfe? 
       
       Betroffene Jungen kommen oft 8-, 9-, 10-jährig in die Therapie. Mädchen
       eher ab der Pubertät.
       
       Was können Sie in der Therapie erreichen? 
       
       Eine Abgrenzung zwischen Mutter und Kind. Eine Ich-Entwicklung des Kindes.
       Die Aufnahmebereitschaft der Eltern für die Weiterentwicklung, wir arbeiten
       ja auch mit den Eltern, sodass diese die Projektionen aufnehmen, innerlich
       verarbeiten und dem Kind abgemildert zurückgeben. Ich habe leider auch
       erlebt, dass mit dem Gesundwerden der Kinder die psychisch kranken Eltern
       kränker wurden. In einem Fall hat die Mutter dem Mädchen Suizid
       angekündigt, während es in der Therapiestunde war. Als das Mädchen es mir
       sagte, rief ich sofort die Feuerwehr und fuhr selbst hin, es stimmte. Die
       Mutter wurde gerettet, versuchte es erneut, ließ sich danach aber
       behandeln. Gut war, dass das Mädchen sah, wie krank die Mutter ist, und
       sich distanzieren konnte. Als sie in die Therapie kam, war sie gerade das
       dritte Mal sitzen geblieben, wurde aber doch weiter beschult. Eines Tages
       kam sie, die vorher nur Fünfen und Sechsen schrieb: „Frau Höhfeld, ich habe
       eine Eins.“ Später ist sie Erzieherin geworden. Das war ein gutes Ergebnis.
       
       Noch mal zur hohen Zahl von Betroffenen. Ist psychische Erkrankung von
       Eltern ein Phänomen unserer Zeit? 
       
       Nein. Vor allem durch den Krieg wurde viel psychisches Leid ausgelöst, das
       in die nachfolgenden Generationen getragen wurde. Viele Kinder konnten das
       gut kompensieren, können arbeiten, lieben, genießen, Verantwortung
       übernehmen. Aber eben nicht alle.
       
       Gab es da auch Psychotherapie für Kinder? 
       
       Ja, das gab es schon sehr früh, und sehr früh wurden auch die Kosten
       übernommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Amerikaner das ebenfalls
       gefördert, dass die Kosten für Psychotherapie übernommen werden. Und zwar
       als Demokratisierungsprozess der Deutschen.
       
       Weil man wusste, da ist ein Volk von Traumatisierten? 
       
       Nicht nur das, sondern auch von Nazis.
       
       Was ist Ihre Forderung an die Gesellschaft, um die Not der Kinder von
       psychisch kranken Eltern zu lindern? 
       
       Aufmerksamkeit aller, die mit dem Kind zu tun haben. Man soll keine Angst
       davor haben, durch Einmischung die Eltern herabzuwürdigen.
       
       Sich einmischen also? 
       
       Ja, das war immer schon gut.
       
       8 Jul 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Wenn-Eltern-psychisch-krank-sind/!5419959
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Waltraud Schwab
       
       ## TAGS
       
   DIR Psychotherapie
   DIR Kinderschutz
   DIR bipolare Störung
   DIR Kritische Psychologie
   DIR Psychotherapie
   DIR Der Hausbesuch
   DIR psychische Gesundheit
   DIR bipolare Störung
   DIR Schwerpunkt Wahlen in Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kritische Psychologin: Eine Querdenkerin, schonungslos
       
       Die Psychologin Eva Jaeggi lernte ihr kritisches Denken in einer Diktatur.
       Heute ist sie 85 und denkt immer weiter über Grenzen hinweg
       
   DIR Psychotherapie-Kongress in Berlin: Die unbedingte Selbstoptimierung
       
       Forscher kritisieren auf dem Berliner Kongress die neoliberale
       Instrumentalisierung der Psychologie und Psychotherapie.
       
   DIR Der Hausbesuch: Sie hat gelernt, Nein zu sagen
       
       Trude Simonsohn hat den Holocaust überlebt. In Frankfurt am Main ist sie
       stadtbekannt. Erst vor kurzem ist die 96-Jährige ins Altersheim gezogen.
       
   DIR Wegen psychischer Erkrankungen: Fehltage im Job steigen massiv an
       
       Arbeitnehmer fallen im Job immer häufiger und auch länger wegen psychischer
       Erkrankungen aus. Das ergeben Auswertungen verschiedener Krankenkassen.
       
   DIR Wenn Eltern psychisch krank sind: Ich sehe was, was du nicht siehst
       
       Die Mutter von Alina Lanisch (Name geändert) ist manisch-depressiv. Stets
       versuchte sie, ihre Mutter zu unterstützen, und weiß doch: Sie kann sie
       nicht retten.
       
   DIR Neues Gesetz von Kristina Schröder: Krach um Kinderschutz
       
       Bund und Länder streiten sich, ob Kinderschutz von den Kassen bezahlt
       werden darf. Das entsprechende Gesetz könnte nun im Bundesrat scheitern.
       
   DIR Themen bei der Berlin-Wahl: Wahlversprechen Kinderschutz
       
       Immer mehr Kinder landen aufgrund akuter Gefährdung beim Kinder- und
       Jugendnotdienst. Kinderschutzbund verlangt mehr Geld für Prävention.